Als George W. Bush im Juni letzten Jahres als neuer amerikanischer Präsident seinen Antrittsbesuch in Europa machte, begegnete man ihm hier allenthalben mit Skepsis und Misstrauen. Bushs konservatives Programm entsprach sehr wenig europäischen Vorstellungen, vor allem im sozialen Bereich. Sehen doch die Europäer in den USA eine Gesellschaft, die es ungerührt in Ordnung findet, dass ihr kapitalistisches System einerseits Armut für viele und andererseits immensen Reichtum für wenige produziert. Umgekehrt mokieren sich die Amerikaner über europäische Wohlfahrtsstaaten, wo hohe Steuern soziale Programme finanzieren, die doch – nach amerikanischer Auffassung – kaum arbeitsmotivierend wirken. Aber da gab es noch andere Irritationen auf europäischer Seite: die unterschiedliche Haltung der Amerikaner gegenüber Themen wie Landminen, Abtreibung, genetisch veränderte Lebensmittel, internationaler Gerichtshof, Umweltschutz, Raketenabwehrsystem und vor allem die Todesstrafe, die gerade zu diesem Zeitpunkt besonders spektakulär an Timothy McVeigh, dem Terroristen von Oklahoma City, vollzogen wurde.
Aber nicht nur gegenteilige Auffassungen in der Sache verursachten Missstimmung – es war vor allem die Sprache Bushs, die in ihrem – wie europäische Ohren sie empfanden – rüden Ton suggerierte, daß die USA ihre Ziele ohne Rücksicht auf europäische Wünsche zu verfolgen gedachte. Unter diesen Umständen mußte es den Europäern schwerfallen, die von Bush geforderte Führungsrolle zu akzeptieren.
Auch im eigenen Land hatte Bush, der unter zweifelhaften Bedingungen die Wahl sehr knapp gewonnen hatte, besten falls die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung hinter sich. Wirklich an ihn glaubte nur der rechte Flügel der Republikaner und die christlich-fundamentalistischen Kirchen, die sich von ihm die religiöse und moralische Wiedererweckung des Landes erhofften. Die durch die Skandale Clintons geschwächte Demokratische Partei und ihre Anhänger dagegen sahen in Bush den nur durch Wahlmanipulation an die Macht gekommenen Präsidenten, den man wohl oder übel für eine Wahlperiode ertragen musste, dem man aber ansonsten wenig reale Kooperationsbereitschaft zeigte.
Dies alles änderte sich mit dem 11. September 2001, als Terroristen den Amerikanern eine Wunde zufügten, die als Trauma in ihrer Geschichte weiterleben wird. Der Mythos von der Unverwundbarkeit der USA im eigenen Land wurde an diesem Tag zerstört. Eine Welle des Patriotismus überschwemmte das Land, ließ nicht nur Kritik am Präsidenten verstummen, sondern vereinte spontan die unterschiedlichsten Gruppierungen zu einer verschworenen Gemeinschaft, zu der fast mythischen Union des Volkes der Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht nur wurde Amerika zum ersten Mal in seiner Geschichte auf eigenem Territorium von fremden Feinden verwundet – es sah in dem Angriff auf die Türme des World Trade Centers und das Pentagon einen Angriff auf das amerikanische System schlechthin, auf alle traditionellen Werte, die Amerika für seine Bürger verkörperte. Wie schon andere Präsidenten vor ihm durfte auch der jetzige Präsident erfahren, dass im Falle einer von außen verursachten Krise das Volk sich einmütig hinter seinen Präsidenten stellte. Zur Überraschung seiner europäischen Kritiker und der Gegner im eigenen Land reagierte Bush auf die Herausforderung nicht wie eigentlich von einem „schnellschießenden texanischen Cowboy“ erwartet wurde. Kein unüberlegter Gegenschlag erfolgte, sondern geduldiges, geschicktes Verhandeln von Bushs Außenminister Colin Powell, dem es gelang, eine internationale Allianz gegen die Bekämpfung des Terrors zu begründen. Vor allem die Solidarität Westeuropas gab dem dann folgenden militärischen Schlag gegen Afghanistan die gewünschte internationale Unterstützung. So gestärkt konnte Bush den Krieg gegen den weltweiten Terror beginnen, den – laut Bush – „ersten Krieg im 21. Jahrhundert, den Amerika gewinnen
wird … “ Letztendlich sieht Bush – und mit ihm ein Großteil Amerikas – in ihm den Krieg des „Guten gegen das Böse“, und da Amerika ein Land „under God“ ist, kann ein anderer Ausgang gar nicht vorstellbar sein.
Ironischerweise wird die religiöse Komponente dieses Krieges verstärkt durch die Tatsache, daß die Gegenseite die glei che fundamentalistische Motivation, nur mit umgekehrter Wertung geltend macht: radikale Islamisten sehen in den USA die Verkörperung des Bösen, das es mit Hilfe Allahs und aller zu Verfügung stehender Mittel zu besiegen gilt.
Bislang steht Europa an der Seite der USA, zumindest haben die meisten Regierungen Beistand zugesagt, auch militärischen. Geschieht dies aus opportunistischen Gründen, etwa weil man sich nicht die Sympathien der Supermacht verscherzen will? Oder bedeutet es vielmehr, dass sich europäische Interessen mit denen der USA decken? Welcher Art wären diese Interessen? Will ein vereintes Europa sich die Rolle des Weltpolizisten mit den USA teilen? Welche Werte gilt es zu schützen? Decken sich amerikanische Wertvorstellungen mit denen Europas? Gibt es eine wirkliche Wertegemeinschaft der beiden Kontinente?
In seiner Rede zur Lage der Nation am 9. Januar dieses Jahres definierte Bush die Ziele seiner Regierung und erklärte dabei den. Kampf gegen den internationalen Terror zu seiner obersten Priorität. Er kündigte an, dass er zu diesem Zweck die größte Erhöhung des Verteidigungshaushalts seit zwei Jahrzehnten, seit Ende des Kalten Kriegs, fordern werde. Dem Appell zur Entschlossenheit der Nation im Kampf gab Bush besonderes Gewicht, als er die Formulierung gebrauchte, dass es vor allem drei Staaten seien – Irak, Iran und Nord-Korea – die als Teil einer „Achse des Bösen“ Frieden und Sicherheit der gesamten Welt bedrohten. In der Beschwörung des me taphysisch belasteten Wortes „Böse“ stellte sich Bush in die Tradition Ronald Reagans, des anderen konservativen Präsidenten, dem es nicht nur gelang, den Amerikanern ihr damals beschädigtes nationale Selbstbewußtsein zurückzugeben, sondern der von der Mehrheit der Amerikaner als der Sieger über den Kommunismus gefeiert wird, der nicht zuletzt mit klaren Worten – bei seinem Berlinbesuch „Mr. Gorbatchov, bring down this wall!“ – die Sowjetunion zu Fall gebracht habe. Er hatte sich früher nicht gescheut, sie das „Reich des Bö sen“ zu nennen. So wird das historische Ereignis des Zu sammenbruchs der Sowjetunion und Amerikas Triumph als die nunmehr unangefochtene Weltmacht Nr. 1 nicht nur als politisch ökonomischer Sieg gewertet, sondern als der Sieg des Guten über das Böse, also als ein moralischer Sieg. Der Kampf moralischer Prinzipien wird nicht abstrakt, sondern konkret von Menschen geführt. Somit wird der Sieg des Guten über das Böse der Sieg der Guten über die Bösen. Und wer die Guten sind, darüber besteht zumindest bei den meisten Amerikanern kein Zweifel. Während europäisches Denken sich spätestens seit Nietz sche der eindeutigen Kategorisierung von Gut und Böse entfremdet hat und sich die Auffassung von der Relativität ethischer Kriterien zu eigen gemacht hat, hat sich Amerika weit gehend den Glauben bewahrt, dass Gut und Böse klar unter scheidbare, absolute Werte sind. Wenn es auch die verfas sungsmäßige Trennung von Staat und Kirche gibt, spielt Religion im privaten wie im öffentlichen Leben eine nicht zu überschätzende Bedeutung. Amerika definiert sich selbst als eine Nation .under God'“. „In God we trust“ steht auf den Geld münzen, und wer auf Gott vertraut, vertraut auf sein in der Bibel geoffenbartes Wort. Die Bibel ist es, von der der Amerikaner seine Richtlinien für moralisches Verhalten bezieht. Nicht umsonst kämpft die religiöse Rechte darum, dass das allgemeine Schulgebet wieder in den öffentlichen Schulen eingeführt wird und die Zehn Gebote in öffentlichen Gebäuden sichtbar ausgestellt werden. Im säkularen Europa, wo jeder Bürger zumindest im privaten Bereich sich nach Belieben seine eigenen Werte schafft, seinen eigenen Lebensstil praktiziert, entwickelt sich gegenüber fremden Wertvorstellungen eine aus Toleranz und Gleichgültigkeit gemischte Haltung die, sollte es bei aller Bemühung um Konfliktvermeidung dennoch zu einem Konflikt kommen, nach einem Kompromiss, nach einem Wer teausgleich oder einer Werteanpassung strebt. Wo jedoch, wie in Amerika, Werte als absolut gesehen werden, wo im Konflikt fall sich ethische Prinzipien gegenüberstehen, kann es keinen Kompromiss geben. Und wenn es um internationale Konflikte geht, kann es für den Amerikaner keinen Zweifel geben, dass er auf der Seite des Guten zu stehen und notfalls mit militärischer Gewalt zu verteidigen hat. Nachdem Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ erkannt hatte, war das Ziel klar: Zer störung. Mit dem Bösen macht der Gute keine Kompromisse. Nachdem Bush in Nord-Korea, Iran und Irak die „Achse des Bösen“ ausgemacht hat, gibt es nach amerikanischer Logik nur eine Konsequenz: Vernichtung dieser Achse. Während in Eu ropa oft die Auffassung vertreten wird, dass Politik und Moral nicht notwendigerweise zusammenhängen müssen, ja dass Politik ohne moralische Begründung sogar erfolgreicher zu sein verspricht, muss in Amerika politisches Handeln immer in einen moralischen Kontext gestellt werden.
Wenn dieser Kontext der amerikanischen Öffentlichkeit nicht von selbst einsehbar ist, weil er manchmal auch von der Sache her nicht existiert, muss er von den politischen “Spinmasters“ herbeigezaubert werden. Eine politische Maß nahme, die in Wirklichkeit den egoistischen Interessen ge wisser einflussreicher Gruppen dient, muss der Öffentlichkeit mit allen Tricks der Werbepsychologie dennoch als mora lisch motiviert verkauft werden. Nur wenn das gelingt, findet sie allgemeine Zustimmung. Nicht-Armerikaner empfinden diese Vermischung von ethischem und politischem Handeln oft als Heuchelei und schütten das Kind mit dem Bad aus, in dem sie die Verbindung von Moral und Politik als naiv und unrealistisch total ablehnen.
Werden die USA den Krieg gegen den Terror nach Afgha nistan auch auf andere Länder ausdehnen? Dies wird nicht in erster Linie davon abhängen, ob die USA internationale Verbündete für den Kampf finden werden. Zwar werden die Amerikaner sich um eine multilaterale Strategie bemühen, sollte aber militärische Hilfe oder sogar moralische Billigung seitens der westlichen Länder ausbleiben, werden sie unilateral ihren Kreuzzug gegen das Böse weiterführen . Wirklich angewiesen auf militärische Hilfe ist die Militärmacht Nummer 1 nun wirklich nicht. Und was die Billigung seitens Europas angeht welche Autorität sollten Länder besitzen, in denen moralische Kriterien traditionell solange relativiert wurden, dass sie sich weitgehend verflüchtigt haben?
Spricht Amerika wirklich nur mit einer Stimme? Und ist es die des Präsidenten? Sind die USA nicht eine demokratische- pluralistische Gesellschaft, deren Bürger sich aus allen Natio nen und Rassen der Welt rekrutieren? „E pluribus unum“ steht auf den Geldmünzen und beschreibt damit den Vorgang, in dem Menschen aller Nationalitäten Amerikaner werden, das heißt in einer neuen nationalen Einheit verschmelzen, gleichgültig welcher ethnischen, kulturellen oder geographischen Herkunft sie entstammen. G.K. Chesterton bemerkte einmal, dass Ame rika die einzige Nation sei, die auf ein Glaubensbekenntnis be gründet sei. Christ sowohl als Amerikaner kann man in einem Tag werden. Christ wird man durch die Entscheidung, dass die Bibel Gottes Wort ist, auf das man ab sofort sein Leben basiert. Amerikaner wird man durch die Entscheidung, das man die Grundsätze der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung akzeptiert, die einem das Recht auf Gleichheit, Freiheit und Streben nach Glück garantieren. In dieser Gesellschaft von Gleichen, ohne die Tradition einer Klassenzugehörigkeit mit all den unterschiedlichen Wertvor stellungen, intellektuellen Neigungen und materiellen Wün schen, die einer Klasse zueigen sind, besteht naturgemäß die Tendenz zu einer allgemeinen Konformität in allen Bereichen des Lebens. Zwar gibt es in der amerikanischen Gesellschaft, die sich als klassenlos versteht, die kleine Gruppe der Sehr- Reichen und die wesentlich größere Gruppe der Sehr-Armen, dazwischen aber die überwältigende Masse jener, die sich zur Mittelklasse zählen. Sie verfügen über die Mehrheit bei poli tischen Wahlen, sie sind es aber auch, deren Ansichten und Überzeugungen in allen anderen Bereichen des Lebens domi nieren. Dies hat Folgen: eine Konformität des Denkens und der Verhaltensweisen nicht nur in religiösen, moralischen und politischen Dingen, sondern auch im alltäglichen Miteinander, das sich erstaunlich reglementiert und vorhersehbar abspielt in einer Unzahl von Ritualen, von denen eins für jede Gelegen heit zur Verfügung steht.
Es ist nicht ohne Ironie, daß eine Gesellschaft, in der der individuellen Freiheit des Einzelnen eine immense Bedeutung beigelegt wird, die Masse der Bürger wenig Gebrauch von dieser ihnen garantierten Freiheit machen. Schon Alexis de Tocqueville, der Anfang des 19. Jahrhunderts in „Democracy in Amerika“ als erster Europäer Amerika analysierte, hat als eine große Gefahr der Demokratie erkannt, dass es für den Einzelnen eine große Versuchung ist, die eigene Meinung der öffentlichen Meinung zu unterwerfen, die ja nichts anderes ist als die Mei nung der Mehrheit. Das führt zu einer Tyrannei der Mehrheit, die zwar nicht aktiv Minderheiten verfolgt, aber den Willen und die Urteilskraft des Einzelnen auf unterschwellige Weise
bricht, so dass er sich unbewußt der Mehrheitsmeinung un terwirft. Der Meinungskonformismus der Mehrheit in den USA beruht auf der Abwesenheit abweichender Perspektiven, wie sie sich in anderen Ländern aus unterschiedlichen traditio nellen Strömungen kultureller und politischer Art ergeben. Auch von außerhalb der USA kommende Meinungen werden kaum wahrgenommen, geschweige denn als Kriterien für ei- gene Urteile berücksichtigt. Verständlich, dass die Bürger eines Landes von der immensen Größe der USA, wo man tagelang in einer Richtung unterwegs sein kann, ohne an eine nationale Grenze zu kommen oder eine andere Sprache als Englisch zu hören, dazu neigen, sich vom Rest der Welt zu isolieren und wenig Interesse für ihn zu zeigen. Die Abgeschlossenheit des Weltbilds gegen von außen kommende Ideen führt zwangsläu- fig zur Begründung einer fast autistischen Ideologie, die sich als spezifisch „amerikanisch“ definiert und alles, was ihr zuwiderläuft, als „unamerikanisch“ diffamiert, wobei „unameri kanisch“ meist als Synonym für „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ gebraucht wird. Gerechtfertigt wird diese Ideologie durch die Überzeugung, dass sie auf dem Konsens einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft beruht. Schaut man sich aber diesen „Pluralismus“ genauer an, läßt sich erken nen, dass er seine Grenzen hat.
Die politischen Alternativen werden von nur zwei Parteien, der republikanischen und der demokratischen Partei, repräsentiert. Eine kleinere Partei wie z.B. die von Ralph Nader geführ ten Grünen wird von den Wählern nicht ernsthaft in Betracht gezogen und bleibt von den vom Fernsehen übertragenen Fernsehdebatten der Präsidentschaftskandidaten ausgeschlossen. Die sind den Repräsentanten der beiden großen Parteien vorbehalten. Es gibt gewisse Unterschiede zwischen diesen beiden Parteien. Die Republikaner als die Konservativen stehen weiter rechts als die als liberal geltenden Demokraten, die im ame rikanischen Spektrum zwar links stehen, aber nach europäischen Maßstäben immer noch rechts von der Mitte einzuord nen sind. Wirklich alternative Positionen werden verhindert durch diese exklusive amerikanische Ideologie die in der patriotischen Behauptung gipfelt, dass in Amerika die Beste aller Welten verwirklicht ist, weil das System des gottgewollten Kapitalismus dem Bürger die größtmögliche Freiheit bietet, sein persönliches Lebensglück zu erreichen.
Außer durch die beiden großen politischen Parteien wird die Dominanz dieser patriotischen Ideen gefördert durch die Er ziehung der Kinder im Elternhaus und in der Schule, durch die Kirchen und die Medien. Das beruht weder auf dem Wirken bewusst konspirativer teuflischer Mächte, noch auf dem rational erreichten Konsens aller Bürger. Aber es ist auch nicht ein Zufall natürlicher Entwicklung. Es ist vielmehr das Ergebnis eines weit in die amerikanische Geschichte zurückreichenden Prozesses, in dem jene Ideen gefördert wurden, die die be stehende Ordnung unangetastet ließen, und jene unterdrückt wurden, die sie gefährdeten. Im 19. Jahrhundert waren es die “Robber Barons“, die ihren Einfluss geltend machten, heute sind es die Konzerne, die die finanzielle und damit auch politische Macht haben, die Öffentliche Meinung über die kommerziali sierten Medien zu beeinflussen.
Zwei Elemente sind es vor allem, die in diesem Prozess eine wichtige Funktion hatten und noch immer haben: Tabu und Mythos. Als ein Beispiel für Tabuisierung kann die amerikanische Haltung gegenüber der Idee des Klassenkampfes dienen: einen Klassenkampf kann und darf es nicht in einer Nation geben, in der es nach eigenem Selbstverständnis keine Klassen gibt. Ein Beispiel für Mythisierung ist die Beschwörung des “Amerikanischen Traums“, der jedem Bürger die Hoffnung gibt, sich mit eigener Kraft aus der misslichsten Situation befreien zu können. Natürlich dient die Stilisierung des „Selfmade Man“ zu einer Heldenfigur der Nation einem oder mehreren Zwecken. Sie legt einseitig die Last der Verantwortung auf den Einzelnen und entlastet damit die Gesellschaft von ihrer Verantwor tung. Kritik am System wird so im Keim erstickt. Und für den Armen, der an den „American Dream“ glaubt, gibt es keinen Grund, gegen eine privilegierte Klasse zu rebellieren, zu der er ja eines Tages selbst zu gehören hofft. Die Reichen zu beneiden und das System zu kritisieren, das ihnen ihren immen sen Reichtum ermöglicht, gilt als Ausdruck von Sozialneid und ist damit ein Regelverstoß im kapitalistischen Kampf al ler um einen Platz an der Sonne, weil sich in ihm Zweifel an- melden, dass es dabei vielleicht nicht doch nur auf die Tüch tigkeit des Einzelnen ankommt.
Vergegenwärtigt man sich den Einfluß, den die Klasse der Reichen mit ihrer unvermeidlichen Kontrolle über die Medien, das Erziehungssystem und die Politiker (von denen die mei sten selbst zu den Reichen gehören) haben, ist es nicht ver wunderlich, dass sich diese spezifisch amerikanische Ideologie nicht nur am Leben halten kann, sondern seit der Präsidentschaft des Republikaners Ronald Reagan sogar verstärkt das öffentliche Denken beherrscht. Seit den 80er Jahren überschwemmt eine konservative Welle die USA, die auch nicht durch den Demokraten Clinton zurückgedämmt wurde, der schließlich seine Wiederwahl nur der Tatsache verdankte, dass er durch gravierende Reduzierung sozialer Programme auf die konservative Linie einschwenkte. Natürlich gibt es auch in den USA den Dissens Einzelner und politischer Gruppen. Wie jedes Kind in der Schule lernt, ist die freie Meinungsäuße rung verfassungsmäßig garantiert (1. Amendment). Aber die amerikanische Ideologie hat die Mentalität des Volkes so durchdrungen, dass abweichende Meinungen, die gewisse Phänomene prinzipiell in Frage stellen würden, keinen Nährboden finden. Wo Dissens geäußert wird – z.B. an Universitäten oder von Minoritätsorganisationen (ethnische Gruppen, säkulare Humanisten, Frauen, Homosexuelle etc.), wird er von der Majorität in Kritik ertränkt und als „unamerikanisch“ diffamiert. Man gestattet solchen Gruppen außerhalb des Mainstream-Amerika zu überleben. In dieser marginalisier- ten Form sind sie der etablierten Macht nicht nur ungefähr lich, sondern sogar nützlich als Alibi für den Pluralismus und die Toleranz der Gesellschaft.
Ein alle Lebensbereiche durchdringender Patriotismus, ver bunden mit dem religiös begründeten Missionsbewusstsein, das Böse in der Welt bekämpfen zu müssen, war seit der Gründung der Nation einer der wichtigsten Faktoren für politische Entscheidungen von politischer Tragweite. Krieg gewinnt seine Rechtfertigung auch vor Gott durch die gerechte Sache, der er dient, wenn er Recht, Freiheit und Menschenwürde verteidigt. So wurde es schon 1776 von dem Presbyterianer John Witherspoon, der als Präsident der Universität von Princeton, ein flussreicher Lehrer vieler politischer Führer seiner Zeit und selbst Mitglied des ersten Kongresses war, in einer vielbeach teten Predigt formuliert. („If your cause is just – you may look with conf idence to the Lord and entreat him to plead it as his own … the cause in which America is now in arms, is the cause of justice, of liberty, and of human nature.“ (Aus: George Grant, ed.: The Patriot’s Handbook, 1996, p. 107)
In Kriegszeiten erlebt Patriotismus seine Hochkonjunktur. Amerika fühlt sich im Krieg. An jedem zweiten Privatauto und vor Einfamilienhäusern weht die Flagge als das patriotische Symbol schlechthin. „The War on Terror“, so lautet das tägliche Motto, unter dem alle Beiträge rund um die Uhr von FOX- TV stehen, dem Fernsehen des Medienmoguls Mur doch, das dadurch die höchste Zuschauerquote erreicht hat. Umfragen belegen, dassw Bushs Krieg gegen den Terror in Afghanistan ihm eine von einem Präsidenten selten erreichte Beliebtheit beschert hat – weit über 80% der Amerikaner ste hen hinter seiner Kriegsstrategie.
Wird er sie auch noch hinter sich haben, falls er militärisch gegen „die Achse des Bösen“ vorgeht?
In der augenblicklichen Situation geht es nicht nur um Recht, Freiheit und Menschenwürde, sondern um das Leben unzäh liger Menschen in der westlichen Welt, die sich durch Massenvernichtungswaffen der „Achse des Bösen“ bedroht sehen. Am 11. September 2001 wurde der Welt vorgeführt, was abso lute Skrupellosigkeit mit wenig aufwendigen technischen Mit teln anrichten kann. Von Saddam Hussein sagen Experten, u.a. ein aus Irak geflüchteter Atomwissenschaftler, dass er noch in diesem Jahr in der Lage sein wird, nukleare Waffen einzuset zen. Was ist von ihm, der sich nicht scheute, Giftwaffen gegen Bürger im eigenen Land einzusetzen, zu erwarten? Amerika hat darüber keine Zweifel. Bestärkt durch den bisherigen schnellen Erfolg der Intervention in Afghanistan, dem Land, an dem die Sowjetunion nach jahrelangem Kampf scheiterte, scheint Bush bereit, dem Regime Saddam Husseins ein Ende zu bereiten. Der Demokratische Partei, bleibt in der augenblicklichen Stim mungslage nicht anders übrig, als – bei lediglich angedeuteter Kritik an den kräftigen Worten Bushs – in der Sache zuzu stimmen und sich hinter den Präsidenten zu stellen, wie die überwältigende Mehrheit der Amerikaner.
Bushs Rede wurde in Europa weitgehend kritisch aufge nommen. Es missfiel vor allem die Wortwahl. Man sah sie als Ausdruck eines moralischen Rigorismus, der – ungetrübt von aller diplomatischen Verschleierung – eher auf Konflikt provokation als auf Konfliktvermeidung angelegt war. Außerdem fühlte sich europäisches Selbstwertgefühl verletzt durch den Umstand, dass Bush – und mit ihm möglicherweise ganz Amerika – im Alleingang bestimmte, wer der Böse ist und wie er zu vernichten ist. Europa, so scheint es, soll wiederum nur die Rolle des nachträglichen Zustimmens und Unterstützens zufallen.
Die Weltlage erfordert, daß Europa sich nicht von antiamerikanischen Ressentiments lähmen lässt, sondern sich selber auch den Fragen stellt, für die Amerika schon die Antworten gefunden zu haben glaubt – Antworten allerdings, die den Eu ropäern nicht zu gefallen scheinen. Wo aber bleiben die eu ropäischen Vorschläge zur Lösung des Problems der „bösen“ Mächte? Das „Böse“ einfach nicht wahr haben zu wollen, oder zu verschweigen, kann ja nicht die Lösung sein.