Amerikanischer Senioren-Lifestyle

„Wohlgemut ist ja nun wohl auch nicht mehr der Jüngste“. Diese Aussage einer Bekannten beschrieb den Sachverhalt zwar richtig, aber nicht erschöpfend. Er ließ die Vermutung zu, dass Wohlgemut in der Mitte seines Lebens stehe. Dabei war er doch schon fast 90 – für einen weißen Amerikaner der gehobenen Mittelklasse nicht ungewöhnlich.

Wohlgemut pflegte seit Jahren morgens noch vor dem Frühstück die Lokalzeitung zu lesen. Normalerweise ignorierte er die Anzeigen. Doch in letzter Zeit erschien immer wieder dieselbe Anzeige und so konnte Wohlgemut nicht umhin, sie zur Kenntnis zu nehmen. Vier Menschen waren auf dem Foto zu sehen, in heller Freizeitkleidung, fröhlich lachend und unbändige Lebensfreude ausstrahlend –  eben Amerikaner. Etwas im Hintergrund Mann und Frau, offenbar die Eltern von zwei vor ihnen stehenden, schon erwachsenen Söhnen. Die Gruppe verkörperte ein Familienunternehmen, schon in der dritten Generation. Die Gründergeneration war – wenigstens auf dem Foto – nicht mehr vorhanden. Wahrscheinlich waren sie schon vor geraumer Zeit betriebsintern entsorgt worden. Wieso betriebsintern entsorgt? Das Familienunternehmen war ein Krematorium. Es versprach den Zeitungslesern, ihnen alle Sorge für die Gestaltung ihres endgültigen Abschieds von dieser Erde zu nehmen – und das vor allem preisgünstig. Angeboten wurde eine zukünftige Feuerverbrennung, aber zu heutigem Preis. Das Schönste am Angebot: Ratenzahlung. Die Höhe der Raten richtete sich nach der Anzahl der Jahre, die ein Kunde noch zu leben gedachte. Wohlgemut allerdings widerstrebte es sehr,  das Angebot in Betracht ziehen. Er wollte betreffs Erwartung weiterer Lebensjahre keine Berechnungen anstellen.

Eine andere Art von Anzeigen wurde von Wohlgemut schon lange ignoriert. Anfänglich hatte er sie allerdings amüsiert zur Kenntnis genommen. Doch dann, als ihre Zahl immer größer wurde, hatte er sie mit zunehmender Langeweile, schließlich sogar mit Zorn betrachtet. Die Anzeigen richten sich an Senioren, denen sie eine Art neues Leben versprechen, ein Leben im Schlaraffen-Land, wo sie im luxuriösen Ambiente von traumhaft schönen Residenzen wohnen, zwar in ihren eigenen vier Wänden, aber in einem Gebäude mit vielen Gleichgesinnten, mit denen sie zusammen jung bleiben wollen. Sorglos verbringen sie ihre noch verbleibenden Jahre, alle ihre Bedürfnisse werden erfüllt. Damit nur ja kein Vakuum entsteht, sind die Tage sind vollgepfropft mit Aktivitäten: Gymnastik, Mal- und Yogakurse, erlesene Dinner im festlich gedeckten Speisesaal, fröhliche Partys mit fröhlichen Freunden. Aber vor allem – und das hat Wohlgemut erst abgeschreckt, dann wütend gemacht – das Motto der Residenzleitung: „Wir sind hier alle Freunde und unterstützen einander mit Liebe und Lachen“. Wohlgemut ist ein sturer Kopf. Er wollte sich eigentlich nicht unterstützen lassen, aber wenn doch, dann um Himmels Willen nicht mit Liebe und Lachen, zumal die Kosten für einen Residenzaufenthalt so astronomisch hoch waren, dass einem Lieben und Lachen vergehen konnten. Er erkannte, dass die Leiter einer solchen Residenz ihm nicht nur sorgloses Wohnen verkaufen wollten, sondern einen „Lifestyle“. Aber Wohlgemut hatte sein bisheriges Leben selbst „gestylt“, und das wollte er auch für den Rest seines Lebens so halten.

Seit ein paar Jahren macht eine Senioren-Siedlung von sich reden. Sie gilt als die Realisierung eines vollkommen neuen Konzeptes von „Wohnen und Leben im Alter“. Im Fernsehen gab es einen Bericht über „The Villages“ – so heißt die neue Siedlung -, den Wohlgemut sich mit Interesse ansah.  Eigentlich war er ja schon ein richtiger Experte für Wohnen und Leben im Alter – das tat er nämlich  schon seit Jahren -, aber er war durchaus offen für neue Möglichkeiten, die sein bisheriges Leben bereichern könnten.

„The Villages“ ist Amerikas größte Senioren-Siedlung und liegt mitten in Florida. Wie  der Name andeutet, handelt es sich um eine Ansammlung von einzelnen Wohnkomplexen. Sie sind alle  „gated“,  d.h.  zugangsbeschränkt, also geschützt vor unliebsamen Eindringlingen, und zusammen bilden sie die Stadt. Sie ist die schnellst wachsende Stadt in den ganzen USA. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts gegründet, hat sie heute schon fast 80.000 glückliche Einwohner, die der Anziehungskraft dieser sorgfältig von Investoren geplanten und bis ins Detail realisierten Wohnkonzeption nicht widerstehen konnten.

Vermarktet wird The Voices als Amerikas „freundlichste Stadt: Häuser in mit Bäumen bestandenen Straßen, gemütlich herumfahrende Golfcarts, Nachbarn im freundlichen Geplauder auf den Straßenplätzen.“ Heraufbeschworen wird das Bild einer vergangenen Zeit, in der es noch traditionelle Werte gab, Amerikaner ihre Nachbarn kannten, die Alten respektiert wurden und alle die Regeln einhielten.

Himmel, ist das schön!  Wohlgemut musste es zugeben – doch wo ist der Haken, fragte er sich, von gewohnheitsmäßigem Misstrauen erfüllt. Es gab nicht nur einen Haken – es gab mehrere. Um Bürger in dieser Stadt zu werden, muss zunächst die Altersfrage geklärt werden. Um  ihren Seniorenstatur zu wahren, muss The Villages darauf bestehen, dass 80 Prozent seiner Einwohner über 55 Jahre alt ist. Wenn das 20 Prozent-Kontigent für Jüngere erfüllt ist, gibt es keine weitere Zulassung mehr. So ist sichergestellt, dass das Durchschnittsalter 71 Jahre ist. Eine andere Folge dieser Altersbeschränkung ist, dass The Villages eine kinderfreie Stadt ist. Kinder sind nur zu kurzfristigem Besuch erlaubt, damit kein Kindergeschrei die friedliche Atmosphäre zerstört. Soweit gäbe es für Wohlgemut noch keine Hürden. Sein Alter wäre kein Hindernis, im Gegenteil, man würde ihn sicherlich willkommen heißen, da er das Durchschnittsalter der Stadtbewohner sogar etwas anheben würde. Auf Kindergeschrei könnte er auch weitgehend verzichten, obwohl er doch hin und wieder Kindergeschrei als Zeichen von Lebensfreude schätzen würde.

Widerstand kam in Wohlgemut auf, als er in den Prospekten las,  dass es strenge Vorschriften für die Gestaltung der Häuser gab. Einförmigkeit und Eintönigkeit war gefordert. Keine bunten Farben, keine auffallenden Verzierungen, kein Obergeschoss in den Häusern. Von der Straße her muss das Areal vor den Häusern, Garten darf man diese sterile Rasenfläche nicht nennen, gleich aussehen.  Auf einen Garten mit Gemüse und vielerlei Büschen müsste er verzichten, dachte Wohlgemut. Er fühlte, wie sein anfängliches Interesse an dieser neuartigen Senioren-Stadt, merklich nachließ. Auch die Existenz von 2500 Clubs, endlosen Golfplätzen und zahlreichen Pickleballplätzen The Villa konnten daran nichts ändern. The Villages gelten übrigens als die Weltzentrale für Pickleball, eine vereinfachte Art von Tennis, was sie vor allem bei Senioren beliebt macht. Pickleball und Golf sind die beliebtesten Tagesaktivitäten. Über Abend- und Nachtaktivitäten geben die Prospekte keine Auskunft, aber man darf annehmen, dass die alten Herrschaften um 9 Uhr abends ihre Golfcarts in die Garage fahren und die Bürgersteige einrollen, da sie nicht mehr gebraucht werden.

Viele der erwähnten Aspekte ließen Zweifel in Wohlgemut aufkommen, ob The Villages der geeignete Wohnort für ihn sei. Als er las, dass 98,20 Prozent der Bewohner aus Weißen besteht und nur 0,30 Prozent aus schwarzen Amerikanern,  konnte er nicht umhin zu erkennen, dass die gesellschaftliche Struktur der Stadt genauso eintönig war wie die architektonische  ihrer Häuser. Wohlgemuts Zweifel wuchsen. Aber als er dann im Fernsehen sah, dass Präsident Trump The Villages besuchte und in einer Rally den Senioren bestätigte, dass sie die besten patriotischen, konservativen Stützen der Republikanischen Partei seien – schließlich wählen 70 Prozent der Bürger republikanisch — waren Wohlgemuts Zweifel geschwunden. Gewissheit hatte ihren Platz eingenommen: Nein, The Villages war als Alterswohnsitz für ihn gestorben.

The Villages, dieses künstliche Paradies nordwestlich von Orlando, ist die Heimat von Babyboomers, d.h. der zwischen 1946 und 1965 geborenen Generation. Sie erinnern sich an eine Zeit, in der Amerika nach einem gewonnen Krieg einen wirtschaftlichen  und technologischen Aufschwung erlebte, in der Kühlschränke und Fernsehapparate Einzug in die Wohnungen hielten und die Autos nicht groß und protzig genug sein konnten. Amerika war auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Selbstbewusstseins. Weiße und schwarze Amerikaner lebten getrennt neben einander, und die weißen Amerikaner glaubten, dass die Welt in Ordnung war. Die nachfolgende Generation mit ihren revolutionierenden Gedanken zerstörte zwar diesen Glauben, konnte aber nicht die Erinnerung an ihn zerstören. Clevere Investoren schufen einen Ort, der alten Menschen erlaubt, nostalgisch den Traum der guten alten Zeit zu leben. In einem sich ständig verändernden Amerika, in dem dunkelhäutige Menschen dabei sind, die Mehrheit zu erlangen, ist The Villages eine Enklave, in der Reste eines alten Amerikas überleben.   

Als Wohlgemut das erkannt hatte, kam er zu der Schlussfolgerung, dass er – mit seinen fast 90 – doch noch zu jung war, um in einem solchen Museum zu leben.