Der „Kulturkrieg“ in den USA und seine historischen Ursachen – Liberalismus versus Konservatismus

Dr. Ben Carson, republikanischer Präsidentschaftskandidat und international bekannter Neurochirurg, verkörpert in Personalunion eine Dichotomie im amerikanischen Geistesleben, die gesellschaftlich und politisch von großer Konsequenz ist. Als Wissenschaftler sollte er an die Macht der Vernunft glauben, die naturwissenschaftliche Fakten nicht ignoriert, sondern zur Basis von Erkenntnis macht. Carson ist aber gläubiger Seventh-day Adventist. Als solcher muss er glauben, dass der Schöpfungsbericht der Bibel ein Ereignis berichtet, das tatsächlich an sechs aufeinander folgenden Tagen stattfand und zwar vor rund 6000 Jahren. Wer an Evolution glaubt, ist nach Aussage des Weltpräsidenten der Seventh-day Adventisten, Ted Wilson, kein Adventist.

Die europäische Aufklärung im 18. Jahrhunderts proklamierte die Priorität der Vernunft, setzte rationales Denken ein im Kampf gegen Vorurteile aller Art, gegen traditionelle Autoritäten wie Kirche und Staat und zur Neugestaltung der menschlichen Gesellschaft. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Verfassung von 1787 wurden konzipiert von gebildeten Männern, viele waren Juristen, die im Sinne der europäischen Aufklärung ein rationales Regierungssystem entwarfen, innerhalb dessen sich Gesellschaft, Individuum und Ökonomie frei entfalten konnten. Ihre Lehrmeister waren europäische Denker wie Hobbes, der in seinem „Leviathan“ zeigte, dass der Mensch im Naturzustand sich im „Krieg aller gegen alle“ befand. Diesen Kampf zu reduzieren und zu kontrollieren war Aufgabe derer, die aus ihrer Mitte dafür gewählt wurden und eine Regierung bilden sollten. Das menschliche Miteinander wurde auf diese Weise rational geregelt. Die Ökonomie sollte sich nach Adam Smith unabhängig von äußerer Einmischung, etwa durch die Regierung, entwickeln. Friedlicher Wettbewerb war ein Element dieses Systems. Aufgabe der Regierung sollte vor allem sein, die Rechte, die nach Locke dem Menschen grundsätzlich zustehen, zu schützen. Es sind dies die „Laws of Nature and of Nature’s God“, also sich aus der Natur ergebende Rechte, die der Mensch aufgrund seiner rationalen Fähigkeiten als „selbstverständlich“ erkennt („We hold these truths to be self- evident). Die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung definieren diese Rechte: Alle Menschen sind gleich geschaffen, sie sind von ihrem Schöpfer ausgestattet mit bestimmten unveräußerlichen Rechten, zu denen gehören Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. („ that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable rights, that among these are life, liberty and the pursuit of happiness.“) Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass die aufgeklärten Gründerväter nicht die Bibel und ihre Gebote zur Basis ihrer Staatsphilosophie gewählt hatten, sondern im Gegenteil: Sie verankerten die strenge Trennung von Staat und Kirche schon in Artikel I der Bill of Rights (1791). Nicht, dass sie Atheisten gewesen wären, doch als von der Aufklärung erfasste Menschen waren sie Agnostiker oder Menschen, die nicht in der Bibel, sondern in den Gesetzen der Natur Gottes Wirksamkeit erkannten. Bezeichnend für den Geist der Epoche ist die Jefferson Bible. Es ist ein Buch, in dem Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und dritter Präsident der USA, das Leben Jesu aus dem Neuen Testament in ausgewählten Ausschnitten zusammenfasst. Dabei ließ er alle Passagen aus, in denen von übernatürlichen Phänomenen wie Wundern und Prophezeiungen berichtet wird. Jesus wird von ihm aufklärerisch gesehen als der Lehrmeister eines ethischen Systems. Die Vernunft hatte er zum Kriterium seiner Bibelauslegung gemacht und alles Irrationale, was der Vernunft nicht zugänglich ist, eliminiert. Diese aufklärerische, auf Vernunft setzende Geisteshaltung, durchzieht die Geschichte der USA bis heute. Versieht man sie mit einem Etikett, lässt sie sich als die „liberale“ Geisteshaltung bezeichnen – eine Bezeichnung, die heute meist politisch, und von ihren Gegnern polemisch, verwendet wird.

Gleichzeitig gibt es eine Gegenbewegung zu diesem „Liberalismus“. Es ist der „Konservatismus“, der schon vor zweihundert Jahren als Widerstand gegen die Epoche der Aufklärung entstanden ist. Damals waren es Philosophen, Politiker und Dichter, die gegen die Ideen und Auswirkungen der französischen Revolution protestierten. Vor allem der britische Politiker und Philosoph Edmund Burke (1729-1797) entthronte das Primat der Vernunft. Er war gegen revolutionäre Veränderungen und plädierte stattdessen für organisches, auf persönlichem Eigentum basierendem Wachsen einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Er gilt als geistiger Vater des angelsächsischen Konservatismus. Anhänger der neuen, antiaufklärerischen Bewegung bezweifelten, dass Vernunft allein in der Lage sei, menschlichen und gesellschaftlichen Fortschritt zu gestalten. Statt der Vernunft betonten sie die Bedeutung von Religion, Mythos, Tradition und Brauchtum – alles Kräfte, die der Verwirklichung von Fortschritt nicht unbedingt förderlich sind.

In Deutschland waren es die Romantiker, die sich gegen aufklärerische Gedanken wendeten. Der frühe Romantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg 1772-1801) stellte der Wissenschaftsgläubigkeit der Aufklärung die Poesie gegenüber. Vernunft ersetzte er durch „Gemüt“. In der Reformation, im Aufkommen der protestantischen Geisteshaltung, sah er eine aufklärerische Entwicklung, die den Menschen seinem eigenen Wesen und der Gesellschaft entfremdete. Rückwärtsgewandt sah er im mittelalterlichen Katholizismus das Paradies, wo der Mensch sich noch im Einklang mit der Natur und der Gesellschaft befand. Doch dann der Umbruch: „Der anfängliche Personalhass gegen den katholischen Glauben ging allmählich in den Hass gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über.“ Novalis wandte sich gegen diesen „neuen Glauben, der aus lauter Wissen zusammen geklebt war“, in dem die „Poesie verschrien war“ (Die Christenheit oder Europa, 1799).

Eichendorf, der zur späten Romantik gehörende Dichter, verwendet wie Novalis das triadische Deutungsmodell der Geschichte. Auch er träumte rückwärtsgewendet von einem verlorenen paradiesischen Zustand, dem Ort einer nie endenden Sehnsucht. Die Rettung des Menschen von der Verlockung durch das Chaos und seine Rettung durch den christlichen Glauben ist ein häufiges Motiv in der Dichtung Eichendorffs. In der Streitschrift gegen den Deutschkatholizismus kritisierte der Katholik Eichendorff diese neue Aufklärungstheologie, die die Bibel rein rationalistisch auslegte und Institutionen der traditionellen katholischen Kirche wie päpstliches Primat, Heiligenverehrung u.a. ablehnte. Gemeinsam sind den Gegnern des aufklärerischen, rationalistischen Denkens die kritische Haltung gegenüber ihrer Gegenwart und der Rückblick auf eine verklärte Vergangenheit.

Charakteristisch für eine Mehrheit der Amerikaner ist eine konservative Grundhaltung. Diese kann jedoch von einer progressiveren, liberaleren Weltsicht überlagert und damit abgeschwächt werden. Die Haltung, die im einzelnen Amerikaner überwiegt, gibt den Ausschlag, für welche politische Partei er sich entscheidet: für die konservative Republikanische Partei oder für die liberale Demokratische Partei.

Die Gründung und frühe Besiedlung der Vereinigten Staaten von Amerika erscheint in der konservativen Perspektive im Licht des Mythos. Die Ankunft der Pilgerväter, die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung, die Eroberung des Westens sind historische Ereignisse, die tief im nationalen Bewusstsein verankert sind. Nationale Feiertage – Thanksgiving, Fourth of July, Presidents Day – sind die jährlichen Rituale, an denen dieser Ereignisse gedacht wird. Sie verkörpern ein Traditionsbewusstsein, das den extrem großen Patriotismus fast aller Amerikaner erzeugt, nicht nur den der Konservativen, sondern auch den der Liberalen.

Eine Differenz in der Sicht auf die Vergangenheit der USA lässt sich jedoch erkennen, und zwar besteht sie darin, dass liberale Amerikaner die Vergangenheit säkular im Sinne der Gründerväter interpretieren. Konservative jedoch fügen der Tradition eine religiöse Dimension hinzu. Dafür gibt es bestimmte historische Gründe.

Wahrscheinlich schon auf der Überfahrt von England nach der neuen Welt, 1630, schrieb der Puritaner John Winthrop, der spätere Gouverneur der Massachusetts Bay Colony eine Predigt, in der er forderte, dass die Kolonie das Vorbild für eine christliche Gemeinschaft werden solle – „ a city upon a hill“ – eine Stadt auf dem Hügel, auf die die Welt schauen würde. Im benachbarten Connecticut entwarf neun Jahre später eine Gruppe Puritaner eine Verfassung (Fundamental Orders of Connecticut), in der sie ebenfalls ihren Glauben an Gott betonen und ihre Absicht, eine christliche Nation zu gründen. Das Dokument gilt als ein Vorläufer der späteren Verfassung der Vereinigten Staaten, insofern es die Interessen der Gemeinschaft in Einklang mit den Interessen des Individuums bringen wollte. Der theokratische Charakter ist allerdings unübersehbar, da die Mitgliedschaft in der einzigen Kirche, der Puritan Congregational Church, Bedingung für die Staatsbürgerschaft war.

Etwa 100 Jahre später, In den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrhunderts, wurden die Kolonien von einem religiösen Fieber erfasst, das sich wie eine Welle ausbreitete. In Kirchen und Camp Meetings versetzten reisende Prediger wie Jonathan Edwards, Gilbert Tennent und George Whitefield bei sogenannten Revivals die Kolonisten in eine religiöse Ekstase, in der sie erschüttert ihre Sünden bereuend zu Gott fanden und so „wiedergeboren“ wurden. Edwards Predigt „Sünder in den Händen Gottes“ (Sinners in the Hands of God“) schilderte drastisch die Höllenqualen, mit denen Gott den Menschen bestraft, der nicht vom leidenschaftlichen Glauben an ihn erfasst, also der nicht wiedergeboren wurde. Der emotionale Aufruhr der Erweckungsbewegung hatte nicht nur eine religiöse Bedeutung, sondern auch politische Folgen. Der Bedarf an Ausbildung für Prediger und die calvinistische Betonung der Wichtigkeit von Bildung führte in dieser Zeit zu der Gründung von Ausbildungsstätten, die sich zunächst auf Theologie beschränkten, später aber auf andere Fächer erweitert wurden. Universitäten wie Yale und Princeton entstanden aus diesen Anfängen. Die Revivals trugen dazu bei, dass die Kolonien Kontakt zueinander bekamen. Die gemeinsame Erfahrung begründete eine gewisse Einheit unter den Kolonisten, so dass die Erweckungsbewegung als „Amerikas erstes wirklich nationales Ereignis“ bezeichnet werden kann (Mark A. Noll, A History of Christianity in the United States and Canada, p.110).

Rund 150 Jahre nach der theokratischen Verfassung von Connecticut und ein paar Jahrzehnte nach der großen religiösen Erweckungsbewegung kamen 1787 die sogenannten Gründerväter zusammen, um die Verfassung der USA zu entwerfen: das Dokument, dessen Grundätze bis heute das gesellschaftliche und politische Leben bestimmen. Das Erstaunliche an dieser Verfassung: In ihr gibt es keinerlei Elemente aus einem irrealen Bereich, keinen Bezug auf Gott oder die göttliche Vorsehung. Sie bedeutet damit einen radikalen Bruch mit der religiösen Leidenschaft der Vergangenheit. Was war passiert? Die Gründerväter hatten das Gedankengut der Aufklärung in sich aufgenommen und auf die Prinzipien des Staates angewendet. Benjamin Franklin, geboren 1706 und damit der Älteste unter ihnen, wurde zwar als Kind calvinistisch erzogen, entzog sich aber unter dem Einfluss aufklärerischer Gedanken dem christlichen Glauben. Bei den meisten der jüngeren Gründerväter, die die Erweckungsbewegung als Kinder erlebt hatten, hinterließ sie keine bleibenden Folgen. Thomas Jefferson (1743) nahm an keinem spirituellen Renewal teil, bewunderte zwar die Lehren Jesu, glaubte aber nicht an seine Göttlichkeit. Besonders James Madison (1751) war der starke Vertreter der Trennung von Staat und Kirche. Ähnliche Gedanken vertrat George Washington (1732), der nicht beeindruckt vom Great Awakening war und zum ersten Präsidenten der USA gewählt wurde. In der Bill of Rights, ein später Zusatz zur Verfassung (1789), wird gleich zu Anfang gefordert: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion or prohibit the free exercise thereof.“ Religionsausübung war Privatsache des Einzelnen geworden, in die sich der Staat nicht einmischen wollte und nicht einmischen sollte. Die Gründerväter vertrauten ihrem Realitätssinn, der ihnen sagte, dass nicht irreale Instanzen, sondern Vernunft die oberste Autorität für die Gestaltung des Staates war. Das bedeutete: Die USA hatten sich als säkularer Staat konstituiert.

Die Gründerväter waren gebildete und rational eingestellte Menschen, und damit alles andere als religiöse Eiferer. Im Hinblick auf Religion und die Auslegung der Bibel war ihre Geisteshaltung die des Deismus oder Agnostizismus. Aus dieser Geisteshaltung entstand die amerikanische Verfassung. Auf die Denk- und Lebensweise der breiten Masse der Amerikaner hatte sie wohl einen gewissen Einfluss, wurde aber konterkariert von zwei weiteren religiösen Erweckungsbewegungen, die eine in der ersten Hälfte, die andere gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Rituale waren ähnlich wie in der ersten Erweckungsbewegung, es gab Camp Meetings und Revivals, die Kirchen hatten großen Zulauf und sogar neue Glaubensgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas und die Mormonen wurden gegründet. Die soziale und moralische Tendenz dieser Bewegungen bestand darin, dass sie sich vor allem für die Befreiung der Sklaven und die Rechte der Frauen einsetzten. Insofern hatten sie durchaus progressive Züge. Diese aber resultierten nicht unbedingt aus einer rationalen Sicht, sondern waren eher biblisch-moralisch fundiert. Nicht mehr die Vernunft, sondern die Bibel wurde wieder wie früher zur höchsten Autorität.

Gelesen wurde sie in evangelikaler Grundhaltung, d.h. die Bibel wurde nicht rational, symbolisch oder mythologisch wie in der liberalen Theologie ausgelegt, sondern sie wurde wortwörtlich verstanden. Auch die „Wiedergeburt“ (born again) des Menschen als neuer Mensch, der Jesus gefunden hatte, fand in einem übernatürlichen Rahmen statt als ein subjektives, rational nicht verstehbares Erlebnis. Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass es sich um dieselbe Zeit handelt, zu der auch in Deutschland die Romantiker gegen Aufklärung und rationalistische Skepsis kämpften.

Rationalismus und Irrationalismus, Aufklärung und Gegenaufklärung sind zwei geistige Grundhaltungen, die sich in der amerikanischen Geschichte oft antagonistisch gegenüberstehen, sich oft aber auch überlagern. Auf die Gegenwart bezogen, lässt sich sagen, dass der Konflikt zwischen den beiden Grundhaltungen zur Polarisation der amerikanischen Gesellschaft geführt hat. Sichtbar wird der Konflikt in den Programmen der beiden großen Parteien und in den unterschiedlichen Weltanschauungen ihrer jeweiligen Anhänger. Überwiegend fühlen sich die Vertreter der aufklärerischen, säkularen und liberalen Haltung von der demokratischen Partei vertreten, während ihre konservativen, antiaufklärerischen Gegner der Republikanischen Partei nahestehen. Wie in der Vergangenheit sind die Fronten nicht klar definiert, weil es auch hier Überlagerung von Haltungen gibt. Dennoch kann man versuchen, zur Klärung ein Raster aufzustellen.

Anhand einiger Themen, die in der aktuellen Diskussion äußerst kontrovers behandelt werden, lassen sich die Positionen der Parteien und ihrer Anhänger erkennen. Konservative bedauern, dass Religion aus dem öffentlichen Leben verdrängt werde. In den öffentlichen Schulen dürfe nicht mehr gebetet werden, und die biblische Schöpfungsgeschichte dürfe nicht mehr als Alternative zur Evolutionstheorie unterrichtet werden. Diese antichristliche Erziehung setze sich an den Hochschulen fort. Die christliche Bedeutung des Weihnachtsfestes würde geleugnet und der Wunsch „Fröhliche Weihnachten“ werde zu „Schöne Feiertage“ degeneriert. Der allgemeine Moralverfall sei die Folge dieser antireligiösen Entwicklung. Dagegen kämpfen Konservative. Liberale Demokraten vertreten die Ansicht, dass sich die USA inzwischen zu einer Gesellschaft entwickelt hätten, in der das Christentum nicht mehr die dominierende Rolle spiele, weil es viele andere Glaubensgemeinschaften gebe und die Zahl der Ungläubigen wachse. Religion solle daher nicht im öffentlichen, sondern wirklich nur im privaten Bereich gelebt werden.

In den letzten Jahren wurde die Sammelbezeichnung LGBT für nonkonformistische Sexualität eingeführt (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender). Angehörige dieser Gruppen haben nach vielen Gerichtsprozessen ihre legale Gleichstellung mit den Heterosexuellen erreicht. Selbst die Ehe gleichgeschlechtlicher Partner ist laut einem Urteil des Obersten Gerichts vom Juni 2015 legal. Legalität ist aber weit davon entfernt, gesellschaftliche Akzeptanz zu bedeuten. Noch immer laufen in einigen Staaten Prozesse gegen die Gleichstellung. Evangelikale Christen, denen die Bibel mit ihrer Verdammung der Gleichgeschlechtlichkeit die höchste Autorität ist, sehen Homosexualität nicht nur als Sünde an, sondern erkennen in ihr auch ein weiteres Indiz für den moralischen Verfall der Vereinigten Staaten.

Darin sind sie sich einig mit den Anhängern der Tea Party-Bewegung, die vom äußersten rechten Rand der Republikanischen Partei her die moralische Verkommenheit progressiver Politik geißeln. Sie sehnen sich dabei nach dem geliebten Amerika, wie es früher einmal war. Es handelt sich dabei um die konservative Idealisierung der Vergangenheit als das verlorene Paradies. Ihrer Meinung nach ist Amerika auf dem falschen Weg. „America is on the wrong track“ und „We want to take our country back.“ Das sind die Schlachtrufe, mit denen die republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den Wahlkampf ziehen. Einigkeit herrscht darüber, wer der Hauptschuldige ist: der demokratische Präsident Obama. Dabei muss aber erwähnt werden, dass selbst er eine Entwicklung durchmachen musste bis er die Ehe homosexueller Partner akzeptierte – ein Zeichen dafür, dass auch im Fortschrittlichen immer noch konservative Kräfte schlummern können.

Die glückliche Familie mit wohlerzogenen Kindern ist das Symbol der heilen Welt, deren Existenz von der Moderne und ihren Verführungen bedroht ist. Einig sind sich Republikaner und Demokraten in der Betonung der Wichtigkeit von Familie und ihre Bedeutung für eine gesunde Gesellschaft. Aber im Hinblick auf die Bewertung von Schwangerschaftsabbruch unterscheiden sich die Parteien.

Nach vielen Gerichtsurteilen ist Abtreibung inzwischen legal geworden. Doch die Kontroverse wird weiterhin leidenschaftlich geführt. Pro life-Anhänger stehen den Pro choice-Anhängern unnachgiebig gegenüber. In Planned Parenthood-Kliniken berät man schwangere Frauen, und falls sie Schwangerschaftsabbruch „wählen“ bietet man ihnen die Möglichkeit dazu. Die katholische Kirche und evangelikale Christen kämpfen weiterhin für das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Unterstützt werden sie dabei von der republikanischen Partei, die sich die Pro Life Party nennt: „Kein geborenes oder ungeborenes Lebewesen kann als Eigentum eines anderen angesehen werden…“, daher könne man nicht „einigen Individuen das sogenannte Recht geben, das Leben anderer zu beenden“ (www.rnclife.org). In der Unabhängigkeitserklärung heißt es, dass zu den selbstverständlichen Wahrheiten u.a. das vom Schöpfer verliehene unveräußerliche Recht auf Leben gehört (Republican Party on Abortion, Party Platform, www.ontheissues.org/Celeb/Republican) Im Wertechaos der Gegenwart richtet sich der konservative Blick auf die Vergangenheit und sucht Hilfe für moralische Orientierung. Gefunden wird sie in der Bibel und im Gründungsdokument der Vereinigten Staaten. Sollten die Republikaner in der Zukunft den Präsidenten stellen und die Mehrheit im Kongress haben, werden sie alles tun, um ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs durchzusetzen. Zur Zeit können sie sich lediglich darum bemühen, die finanzielle staatliche Unterstützung zu unterbinden oder zu reduzieren.

Die Demokratische Partei unterstützt „energisch und eindeutig das Recht einer Frau, zu entscheiden, ob sie eine sichere und legale Abtreibung vornehmen lassen will, unabhängig davon, ob sie dafür bezahlen kann“ (Democratic Party on Abortion, Party Platform, www.ontheissues.org/Celeb/Democratic). Die Republikaner haben als Begründung ihrer Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs die unveräußerlichen Rechte des Kindes genannt und diese Rechte abgeleitet von metaphysischer, göttlicher Autorität. Die Demokraten sprechen der Frau das Recht auf Abtreibung zu, allein aufgrund eines Gerichtsurteils von 1973. Damals hatte der Oberste Gerichtshof in dem Fall Roe vs. Wade mehrheitlich entschieden, dass Schwangerschaftsabbruch die private Entscheidung der Frau ist. Das individuelle Freiheitsrecht der Frau wurde von weltlichen Richtern höher angesetzt als das individuelle Recht auf Leben des Kindes.

Der Unterschied in den Haltungen der Parteien zur Abtreibung zeigt deutlich die Kluft, die die amerikanische Gesellschaft spaltet und die zu dem geführt hat, was „Kulturkrieg“ (cultural war) genannt wird. In diesem Krieg stehen sich gegenüber die Position der säkularen, aufklärerischen Selbstbestimmung des freien Individuums und die Position der konservativen Rückbesinnung und Rückverpflichtung auf Werte der Vergangenheit, die von metaphysischen Autoritäten abgeleitet wurden.

Die Waffen-Kontroverse ist ein weiteres Symptom für die Spaltung der Gesellschaft. Artikel II der Bill of Rights gibt dem Volk das Recht, Waffen zu tragen, weil eine gut organisierte Miliz (well regulated militia) notwendig sei für die Sicherheit eines freien Staates. Darauf berufen sich die Befürworter des Waffentragens. Ihre Lobby ist die mächtige National Rifle Association (NRA), die sich gegen jegliche Einschränkung des freien Waffenbesitzes hartnäckig wehrt. Das Argument, 33 Tausend Tote im Jahr durch private Waffen sei inakzeptabel, wird von ihr abgeschmettert mit der Begründung: Nicht Waffen töten, sondern Menschen. Und: Die einzige Verteidigung gegen einen bösen Kerl mit einer Waffe sei ein guter Kerl mit einer Waffe. Jeder Versuch von einer Minderheit der Kongress-Mitglieder, Maßnahmen zur strengeren Kontrolle des freien Waffenhandels einzuführen, wird von der Waffenlobby verhindert. Sie werden überstimmt von all den Abgeordneten, die von der NRA finanzielle Zuwendungen erhalten als Gegenleistung für Verteidigung des unbeschränkten Waffenbesitzes. Es sind dies fast ausnahmslos Republikaner. Sie verschließen sich dem rationalen Argument, dass für eine moderne Massengesellschaft das Waffengesetz von 1791 nicht mehr zeitgemäß ist. Mit fundamentalistischem Eifer bestehen sie auf der wörtlichen und ewigen Gültigkeit der Verfassung, so wie Evangelikale auf der wörtlichen und ewigen Gültigkeit der Bibel bestehen. Die Verfassung bekommt so einen mythischen Status.

Konservative Republikaner sind gegen jegliche Einschränkung der Freiheit von Waffenbesitzern. Progressive Demokraten unterscheiden sich von ihnen nur insofern, als sie strengere Kontrollen über den Handel mit Waffen und Überprüfung der Käufer verlangen. Generell verbieten wollen auch sie den privaten Waffenbesitz nicht. Der Grund dafür ist, dass die Waffe (gun and rifle) Teil der amerikanischen Geschichte und Mythologie ist. Mit der Waffe haben die Kolonisten sich ihre Freiheit gegen die Briten erkämpft. Mit der Waffe haben die Pioniere den amerikanischen Westen erobert. Mit der Waffe hat der Siedler sein Haus gegen räuberische Banden und Indianer verteidigt. Erzählungen, Romane und Filme halten diese Vergangenheit fest und vergegenwärtigen den Mythos des freien Amerikaners mit der Waffe in der Hand. Aufklärerische Skepsis kann ihn nicht von seinem Sockel stoßen.

Die Idee der Freiheit und ihre staatliche Verwirklichung stehen an höchster Stelle des amerikanischen Wertesystems. Das sternenbesetzte Banner (The Star-Spangled Banner), die Nationalhymne der Amerikaner beschwört in vier Strophen Amerika als das „Land der Freien und das Heim der Tapferen“ (land of the free and the home oft the brave). Die Freiheit des Individuums als auch die Freiheit des Landes muss immer wieder gegen äußere und innere Angriffe kämpferisch verteidigt werden. Wenn dieser Geist Ausdruck der Liebe zum Heimatland ist, äußert er sich als der leidenschaftliche Patriotismus, für den die Amerikaner berühmt sind. Es gab und es gibt aber Tendenzen von konservativen Kräften, diesen Patriotismus zu instrumentalisieren für politische Zielsetzungen. Nationalistische Überheblichkeit, die die Überzeugung von Amerikas „Einzigartigkeit“ (exceptionalism) vertritt, die Amerika in jeder Hinsicht allen andere Staaten der Welt überlegen macht, ist ein in Chauvinismus umgeschlagener Patriotismus. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, kann er völlig irreale Beurteilungen von Weltpolitik erzeugen. Diese konservative Sicht der Dinge neigt dazu, Kriege zu beginnen, gegen die aufklärerische liberale Kräfte sich oft nicht durchsetzen können.

Der amerikanische „Kulturkrieg“ zwischen konservativer und liberaler Geisteshaltung dauert an. Geführt wird er auf der religiösen, moralischen und politischen Ebene. Ein Ende ist nicht in Sicht.