Schwergewichtige Amerikaner

Das Thema ist sicherlich nicht nur in Amerika aktuell, auch in Deutschland wird es heiß diskutiert. Aber in Amerika hat es eine weit größere Bedeutungsdimension. Die Rede ist von Übergewicht und was man dagegen tun kann. In Deutschland gilt Übergewicht sowohl als ein ästhetisches als auch ein gesundheitliches Problem: Dicke sind weder attraktiv noch besonders gesund. Dass Millionen von Menschen dies glauben – dafür sorgt die Wellness-Industrie, deren Werbung für Naturheilverfahren, Fitnessstudios, Diätempfehlungen und Nahrungsergänzungsmittel sich nur ganz starke und in sich gefestigte Menschen entziehen können.  Die anderen reißt die Welle des Gesundheitswahns mit sich fort.

Ähnlich ist es auch in Amerika – und dennoch auch anders. Hier laufen Fett-Phobie, Kapitalismus und Klassen- bzw. Rassenbewusstsein zusammen. Besonders am Anfang eines neuen Jahres, wenn in Menschen der Wille erwacht, sich ab jetzt zu erneuern und gesünder zu leben, beginnt die Werbekampagne der Gesundheitsindustrie. Sie wirbt mit verführerischen Preisnachlässen bei Fitnessstudiogebühren und Diätessen, die im Abonnement täglich ins Haus geliefert werden. Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel sind preiswert wie nie zuvor. Dies ist der finanzielle Anreiz. Ein anderer Anreiz ist mehr verdeckt. Fotos und Filme wollen den Minderwertigkeitskomplex eines Menschen ausnützen. Sie animieren ihn zum Vergleichen. Warum bin ich nicht so schlank wie die Frau auf dem Foto? Warum habe ich nicht so dicke Muskeln wie Schwarzenegger im Film? Was als erstes beim Vergleichen entsteht, ist Neid. Als zweites folgt Scham. Der Mensch beginnt sich seines Körpers zu schämen. Mein Körper ist einfach nicht gut genug, muss er sich eingestehen. Und aus diesem Eingeständnis heraus entsteht ein neues Gefühl: Schuld.  Ich bin schuld daran, dass mein Körper nicht dem Diktat des Body-Mass-Index entspricht. Ich bin schuld an meiner Disziplinlosigkeit, die mich nicht genug an meinem Körper arbeiten ließ.

Nichts ist amerikanischer als der Mythos der Selbstdisziplin. Der ‚Selfmademan‘ verkörpert ihn in finanzieller Hinsicht. Determination, harte Arbeit und Selbstdisziplin haben ihm den ökonomischen Erfolg gebracht, der seinen sozialen Status begründet. Genau das suggeriert die Gesundheitsindustrie: Nur äußerste Selbstdisziplin garantiert einen vollkommenen Körper und damit die gesellschaftliche Anerkennung und erstrebte Bewunderung.

Die psychologische Bedeutung von Selbstdisziplin im Sinne des sich selbst disziplinierenden Ichs basiert auf einer spezifisch amerikanischen Konzeption, auf der Idee des Individualismus. Individualität gilt als das wesentlichste Merkmal des amerikanischen Charakters. Die Wurzeln liegen weit zurück. Der Wille nach Freiheit und Unabhängigkeit motivierte schon die Kolonialisten zum Revolutionskrieg gegen England. Die Verfassung des neuen Landes ist eine Sammlung von Gesetzen, die alle dem Bürger Schutz vor staatlicher oder religiöser Bevormundung und Unterdrückung bieten und seine individuelle Freiheit garantieren. Später dann, Mitte des 19. Jahrhundert, schreibt Walt Whitman, der als der ausgeprägteste amerikanischste Dichter gilt sein Gedicht „Song of Myself“ (Lied von mir selbst), in dem er schon der ersten Zeile selbst-bewusst verkündet: “I celebrate myself“ (ich feiere mich selbst). Um die gleiche Zeit schreibt Ralph Waldo Emerson, der Philosoph des Transzendentalismus, seinen Essay „Self-Reliance“. Schon der der Titel beschreibt das Thema: Selbständigkeit des Individuums, Vertrauen auf sein eigenes Selbst. Es sind Ideale, wie sie auch noch im 20. Jahrhundert von John Dewey in seinen Theorien über Erziehung und Schule propagiert wurden.

Nicht genug damit, dass der übergewichtige amerikanische Mensch sich wegen der mangelnden Selbstkontrolle über seinen Körper unzufrieden fühlt – es kommt noch ein anderes Leiden hinzu: Das Leiden an der Stigmatisierung durch die Gesellschaft. Obwohl Amerikaner darauf bestehen, dass ihre Gesellschaft – anders als in Europa – keine Klassengesellschaft sei, gibt es auch hier ein Unten und Oben, wobei oben die Wohlhabenden ihren luxuriöseren Lebensstil pflegen und unten die „less fortunate“, also die „weniger Glücklichen“, wie man sie freundlicherweise nennt, ihre ärmlicheren Leben fristen. Zu dieser letzten Gruppe gehören vor allem die Afro-Amerikaner, die zu einer Rasse gehören, die nicht nur eine schwarze Hautfarbe hat, sondern sich auch sonst körperlich von ihren weißen Mitbürgern unterscheidet. Seit es Filme, Fotos und Illustrierten gibt, propagieren diese das Ideal der weiblichen Schönheit. Verkörpert wird dieses Ideal von der weißen, angelsächsischen Frau, deren Schönheit vor allem in ihrer Schlankheit besteht. Parallel dazu gibt es den Körper des weißen Mannes, sportgestählt und schlank. Solche Menschen sind die Idole der Gesellschaft. Sie setzen die Maßstäbe, sie verkörpern all das, wonach der Amerikaner und die Amerikanerin streben. Nur zu schade für die Schwarzen! Auf Grund ihrer Rasse hat die Natur ihnen eine andere Konstitution gegeben, und deshalb verkörpern sie auch eine andere Art von Schönheit. Diese Schönheit wird nicht definiert durch das von Weißen erfundene „Body-Mass-Index. Leider geben sich viele Schwarze nicht zufrieden mit ihrer rassisch bedingten Konstitution. Aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus streben sie danach, ihren Körper dem von Weißen geschaffenen Ideal nachzuformen – ein Streben, das meist scheitert. Aus ihm resultiert die Fett-Phobie, von der die Soziologin Sabrina Strings in ihrem Buch berichtet (The Racial Origins of Fat Phobia).

An Übergewicht ‚leidet‘ auch die Bevölkerungsgruppe, die nicht über die pekuniären Mittel verfügt, hohe Gebühren für das Fitnessstudio auszugeben und alle paar Wochen eine neue Diät auszuprobieren. Es handelt sich um Menschen, deren Diät vorwiegend aus Pommes, Cola, Cornchips und fetten Burgers besteht, weil sie oft mehrere Jobs haben, die für die Zubereitung gesunder Mahlzeiten keine Zeit lassen. Die Frage, ob diese Menschen wirklich am Übergewicht ‚leiden‘, das sie als Angehörige der pekuniär nicht erfolgreichen Bevölkerungsschicht stigmatisiert, ob nicht auch sie ein Minderwertigkeitskomplex antreibt, ihre desolate Situation zu verändern, ist nicht eindeutig zu beantworten. Das amerikanische Credo, ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘, das heißt, ist selbst verantwortlich für seinen Erfolg oder Misserfolg, ignoriert die Ausgangspositionen eines Menschen, die Lebensumstände, in die er hineingeboren wurde. Einige kämpfen gegen die Widerstände an und siegen. Einige kämpfen und verlieren. Andere kämpfen gar nicht. Sie haben sich abgefunden und an ihr aussichtsloses Leben gewöhnt.

In einer Zeitung fand sich ein Leserbrief, der einen Vorschlag machte, wie man weniger betuchten Menschen beim Gewichtverlieren helfen kann. Man solle doch alle Fitnessstudios offiziell zu Therapiestudios erklären – was sie im Prinzip ja auch sind – und den Besuch von der Krankenkasse bezahlen lassen. Wohlhabende gehen ins Fitnessstudio, wo sie sich an allen möglichen Geräten ihren dicken Hintern oder Bauch abtrainieren und Muskeln antrainieren können. Das sind doch alles therapeutische Maßnahmen, die der Gesundheit dienen. Warum sollen nur Wohlhabende sich das leisten können? Armen Schwergewichtigen muss doch auch geholfen werden.

Laut den Centers for Desease Control and Prevention haben 74 Prozent der erwachsenen Amerikaner Übergewicht, davon sind sogar 43 Prozent fettleibig, adipös, wie die Mediziner es nennen, wenn sie als Maßstab den Body Mass Index nehmen. Was sagen diese Zahlen über die amerikanische Gesellschaft aus? Politisch ist die Gesellschaft dramatisch gespalten. Aber ihr Gewicht betreffend gibt es eine große Mehrheit, die vereint ankämpft gegen das gemeinsame Übel: Übergewicht.

Jetzt noch zwei Worte zum Trost. Erstens: Der schwergewichtige Amerikaner erleidet ein kollektives Schicksal und weiß, dass er ihm nicht allein ausgesetzt ist, weil Übergewicht die Menschen vereinigt. Zweitens: Immer lauter wird die Kritik, den BMI als Maßstab zu benützen. Immer mehr Ärzte lehnen seine Gültigkeit sogar ab. Demzufolge sind manche Menschen vielleicht gar nicht so übergewichtig wie die Wellness-Industrie ihnen einredet.