Kein Mensch wünscht sich eine Krise. Doch wenn sie einmal eintritt, soll man sie nicht verschwenden. „Don’t waste it, use it“, gebrauche sie, sagt der Amerikaner und hat das im Lauf der Geschichte Amerikas schon mehrmals getan.
Während der „Großen Depression“ der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts nützte Präsident Franklin D. Roosevelt die Notlage der Bürger, um eine Reihe von Maßnahmen einzuführen, die bis heute von Bedeutung für die Wirtschaft und die arbeitende Bevölkerung sind. Als Teil von Roosevelts „New Deal“ wurde 1935 „Social Security“ etabliert. Es dient der sozialen Absicherung aller Arbeitnehmer und selbstständig tätiger Personen, die alle beitragspflichtig sind und im Alter oder bei Arbeitsunfähigkeit vom Staat eine Rente beziehen. Wie in Deutschland wird das Rentensystem im Umlageverfahren finanziert, d.h. die Ausgaben für die Rentenempfänger werden von den Beiträgen der gegenwärtig Beschäftigten finanziert. Roosevelt setzte sich auch ein für die Arbeiter und ihr Recht, Gewerkschaften zu gründen und für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.
Bei Obamas Amtsantritt 2008 befanden sich die Vereinigten Staaten in einer großen Rezession. Obama bekämpfte sie mit einem Paket von finanziellen Hilfsmaßnahmen für Banken und Industrie, die geeignet waren, die Wirtschaft wieder zu neuem Wachstum zu stimulieren. Auch gelang es ihm und seiner Partei gegen erbitterten Widerstand der Republikaner, zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte eine gesetzliche Krankenversicherung einzuführen, von der Millionen von Amerikanern profitieren.
Die Präsidentschaften von Roosevelt und Obama fallen beide in Zeiten der Krise für Amerika. Beide Präsidenten haben ihr Möglichstes getan, um Leben und Leiden der Menschen zu verringern. Beide mussten gegen großen Widerstand konservativer Kritiker kämpfen, die die traditionelle Meinung vertreten, eine Regierung habe nicht die Aufgabe, in die sozialen Lebensumstände der Menschen einzugreifen.
Diese Kritiker, meist Republikaner, diffamieren die Reformen Roosevelts und Obamas als sozialistische Maßnahmen und somit als unamerikanische Tendenzen. Grund dafür ist, dass Amerika besiedelt wurde von Menschen, denen die persönliche Freiheit und Unabhängigkeit höchste Ideale bedeuteten. Von der Regierung Hilfe für den Bürger zu bekommen, hieße, der Regierung Macht über den Bürger einzuräumen. Ein echter Amerikaner braucht keine Regierung, er vertraut auf seine eigene Kraft. Dieses Prinzip mochte in Pionierzeiten Amerikas seine Berechtigung gehabt haben. Es gilt aber nicht mehr in der heutigen Zeit, wo der Einzelne sich in einer Massengesellschaft lebt, die von kollektiven, anonymen Bedingungen und Bewegungen getrieben wird.
Eine Krise wie die Pandemie legt schonungslos offen, was man oft gern ausblendet. Man erlebt den Verlust von dem, was vorher noch selbstverständlich war. Aber ist die Krise überstanden, bietet sich als Positives die Chance eines Neubeginns, verbunden mit einer Neuorientierung.
Der demokratische Präsident Barak Obama hat gegen erbitterten Widerstand der Republikaner das Problem zu lösen gesucht mit der Einführung des „Patient Protection and Affordable Care Act“, PPACA (Gesetz zum Schutz des Patienten und für bezahlbare Krankenversicherung), umgangssprachlich „Obamacare“ genannt. Das Revolutionäre dieser Neuerung war die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht für Bürger unter 65 Jahre. Bürger über 65 Jahre sind seit 1965 durch die staatliche Versicherung „Medicare“ und Erwerbslose durch „Medicaid“ abgesichert.
Eine von der Regierung angeordnete Pflicht bedeutet für konservative Amerikaner, die sich gern auf die Verfassung berufen, einen Eingriff in die Freiheitsrechte des Individuums. Mit einer hauchdünnen Mehrheit der Demokraten wurde das Gesetz vom Kongress verabschiedet und von Obama 2010 unterzeichnet. Wer sich – vielleicht noch ein wenig mit Widerwillen – mit Obamacare versichert hat, kann sich jetzt in der Krise glücklich schätzen. Konkret sieht Obamacare vor, dass Arbeitgeber mit mehr als 50 Vollbeschäftigten Arbeitnehmern diesen eine Versicherung anbieten müssen oder aber zur Zahlung einer Strafgebühr verpflichtet sind. Wer über einen Arbeitgeber keine Versicherung erhält, kann sich bei einer der vielen Versicherungsgesellschaften privat versichern. Für Geringverdienende gibt es Zuschüsse. Wer sich nicht versichern will, muss ebenfalls eine Strafgebühr zahlen. Eine neue Auflage für Versicherungsgesellschaften besteht darin, dass sie keinen Bewerber wegen Vorerkrankungen ablehnen dürfen und auch Behandlungskosten für Kinder bis zum Alter von 26 Jahren erstatten müssen. Die Folge dieser Auflagen für Versicherungsgesellschaften war, dass viele von ihnen die Beiträge erhöht haben oder sich ganz aus dem Geschäft zurückgezogen haben.
2020 ist nicht nur das Jahr der Coronakrise, es ist auch das Jahr der Präsidentschaftswahl. Der inzwischen als Bewerber ausgeschiedene Bernie Sanders ist ein Kandidat, der keiner der beiden Parteien angehört und sich selbst einen Sozialisten nennt. Unermüdlich und kämpferisch prangert Sanders seit Jahren die skandalösen Verhältnisse in den USA an, die er wie folgt beschreibt:
- 50 % der Amerikaner leben von einem Gehaltsscheck bis zum nächsten.
- 40 Millionen leben in Armut.
- Eine halbe Million ist obdachlos.
- 87 Millionen sind nicht versichert oder unterversichert.
Die Kluft zwischen arm und reich wächst seit der Präsidentschaft Reagans unaufhörlich, von Gleichheit und Gerechtigkeit kann nicht mehr geredet werden. Ein Prozent der Gesamtbevölkerung gehört zu den Spitzenverdienern. Deren Vermögen ist größer als die Vermögen von Mittel- und Obermittelklasse zusammen. Bernie Sanders und Elizabeth Warren sind beide die am weitesten links stehenden Politiker, die vor ihrem Ausscheiden als Präsidentschaftskandidaten aufgetreten sind mit dem Versprechen, die bestehenden ungerechten ökonomischen Verhältnisse zu ändern.
Präsident Trump, der seine Wiederwahl durch den vom Coronavirus verursachten Einbruch der Wirtschaft gefährdet sieht, gibt sich alle Mühe, die gesamte demokratische Partei als sozialistisch zu beschimpfen. Dabei macht er sich zunutze, dass das Wort „sozialistisch“ bei vielen Amerikanern dasselbe wie „kommunistisch“ bedeutet. Wenn er verspricht, dass Amerika nie „sozialistisch“ wird, meint er damit im Grunde, dass sich unter seiner Präsidentschaft an den bestehenden sozialen und ökonomischen Verhältnissen nichts ändern wird. Diese könnten sich sogar verschlimmern, wenn es ihm gelänge, Obamacare abzuschaffen, was seit seinem Amtsantritt sein sehnlichster Wunsch ist.
Die große Frage ist nun, ob die Coronakrise das Bewusstsein für die prekäre Situation des Großteils der Bürger nicht so hat wachsen lassen, dass der Ruf nach Änderung der Verhältnisse unüberhörbar und das Verlangen nach größerer Gerechtigkeit unaufschiebbar wird. Man hört schon einzelne Stimmen, auch von Politikern, die ein Grundgehalt für alle Bürger fordern. Für die Generation der jungen Wähler ist Sozialismus nicht mehr unbedingt ein Schimpfwort, und es ist durchaus möglich, dass sie sich nicht von Trumps Wahlkampftaktik blenden lassen und sich für seinen Herausforderer Joe Biden entscheiden. Biden, der frühere Vizepräsident Obamas, gehört zwar nicht dem linken Flügel seiner Partei an, wird aber nicht umhin kommen, sich dem von Sanders und Warren erfolgreich eingeschlagenen Weg nach links, maßvoll mitzugehen – maßvoll in der Hoffnung, dass er auch für konservative Wähler wählbar ist. Es ist von ihm keine soziale Revolution zu erwarten, jedoch eine Politik, die gegen die Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Gesellschaft angeht.
Präsident Obama hatte zwei zentrale Projekte: das eine war die Einführung der Krankenversicherung für alle Bürger, das andere der Schutz der Umwelt angesichts der Bedrohung durch den Klimawandel. Präsident Trump hatte seit seinem Amtsantritt ein großes Projekt: sämtliche Erfolge seines Vorgängers, nämlich die Einführung von Obamacare als auch strengere Umweltauflagen für die Wirtschaft, zunichte zu machen. Zwei Motive haben ihn dazu veranlasst. Das eine ist rein persönlich. Es ist sein Ressentiment gegen einen Präsidenten, der sich nicht nur in Amerika, sondern auch weltweit eine Beliebtheit erworben hat, die Trump nie erreichen konnte. Das zweite Motiv lässt sich erklären mit Trumps Kalkulation, dass das traditionelle konservative Widerstreben der Amerikaner gegen staatliche Verordnungen ihm Zustimmung und folglich Wähler einbringt. Im Hinblick auf Obamacare ist er bislang im Prinzip gescheitert, auch wenn es ihm gelungen ist, ein paar Änderungen – z.B. die Bußgeldzahlung bei Nicht-Versicherung – abzuschaffen.
Umweltschutz war für Obama angesichts des Klimawandels ein Projekt von höchster Priorität. Für Trump dagegen ist Klimawandel nichts anderes als eine Behinderung wirtschaftlicher Entwicklung, ein von den Chinesen erfundener „Schwindel“ (hoax). Die Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency, EPA), die 1970 von Präsident Nixon unter dem Druck der Öffentlichkeit eingerichtet worden war, war Trump von Anfang an ein Dorn im Auge. Schon im Wahlkampf hatte er angekündigt, dass er ihre Schutzmaßnahmen für saubere Luft und sauberes Wasser reduzieren würde. Als Präsident verkleinerte er die EPA und reduzierte ihr Budget. Von den wissenschaftlichen Mitarbeitern, die gegen den Klimawechsel ankämpften, entließ er die Hälfte und ersetzte sie durch Vertreter von Industrieunternehmen. Das Wort „Klimawechsel“ musste aus den Verlautbarungen der EPA verschwinden. Das war der erste drastische Schritt des Mannes, der sich selbst für ein „gefestigtes Genie“ (stable genius) hält und sich als solches berechtigt fühlt, den Wissenschaftlern Paroli zu bieten.
Der zweite drastische Schritt folgte: Trump kündigte 2017 das Pariser Übereinkommen, in dem sich die teilnehmenden Staaten gemeinsam den Klimaschutz als Ziel gesetzt hatten. Erreicht werden sollte das Ziel mit Anstrengungen, vor allem die Durchschnittstemperaturen durch größere Begrenzung von Treibhausgasemissionen zu senken und so der globalen Erwärmung entgegenzuwirken. Trumps Rückzug von dem Übereinkommen wurde weltweit kritisiert. Selbst in den USA gab es mehr Gegner als Befürworter, lediglich Lobbyisten der Fossilienenergiebranche und Politiker, die große Geldspenden von ihr erhalten hatten, unterstützten die Kündigung. Trumps begründete die Kündigung mit der Behauptung, das Übereinkommen sei unfair den USA gegenüber. Die vorgeschlagenen Maßnahmen würden die amerikanische Wirtschaft schädigen, indem sie das Wachstum hemmten und Arbeitsplätze vernichteten. Seit Kündigung des Klimaabkommens hat Trump vielerlei Umwelt schädigende Maßnahmen durchgesetzt – alle, um „unnötige regulatorische Lasten zu minimieren“ (19. Okt. 2018).
In seiner offiziellen Begründung nennt Trump ausschließlich ökonomische Gründe. Es darf aber vermutet werden, dass der wahre Grund Trumps Überzeugung ist, dass die Wissenschaftler, die den Klimawechsel beobachten und seine Ursachen erforschen, Unrecht haben. Und es darf auch vermutet werden, dass eine große Zahl seiner Wähler ebenfalls dieser Ansicht sind.
Als 1957 Sputnik als erster Satellit die Welt umkreiste, waren die U.S. schockiert. Sputnik bewies die technologisch-wissenschaftliche Überlegenheit der Sowietunion gegenüber der amerikanischen – ein Tiefschlag für das amerikanische Selbstbewusstsein. Doch wie schon öfter in der Geschichte, nützte Amerika die von Sputnik ausgelöste Krise und leitete sofort Maßnahmen ein, sie zu überwinden. Die Regierung machte massive Investitionen in Wissenschaft und Technologie, gründete NASA und DARPA zur Entwicklung der Raumfahrt und zur klima- und geowissenschaftlichen Forschung. Überdies verteilte sie Milliarden von Dollar durch den National Defense Education Act (NDEA) an Universitäten. Wichtig aber war auch, dass nicht nur die Regierung die Bedeutung der Wissenschaft erkannte und danach handelte – die Gesellschaft als Ganzes stand hinter diesen Anstrengungen. Science-Fiction Filme wurden populär und Astronauten wurden prominent wie Filmstars. Das Ergebnis ist bekannt: Amerikaner landeten als erste auf dem Mond und gewannen damit das Weltraumrennen. Die Krise war erfolgreich überwunden.
Die augenblicklich herrschende Pandemie ist eine Art Sputnik-Moment. Nachdem die Coronakrise die Schwäche und Untauglichkeit der sozialen Absicherung aller Mitglieder der Gesellschaft schmerzlich offenbart hat, erhebt sich die Frage, ob die Generation der heutigen Amerikaner über die Kraft der früheren Generationen verfügt und eine tiefgehende Änderung in Angriff nimmt – konkret: ein verlässliches und gerechtes soziales Netz schaffen wird.
Nachdem die Coronakrise auch gezeigt hat, wie wichtig der Kampf der Ärzte gegen das Virus ist, wie entscheidend über Leben und Tod vieler Menschen die wissenschaftliche Forschung nach einem wirksamen Impfstoff ist, erhebt sich eine zweite Frage: Wird sich der anti-wissenschaftliche Trend, der vom Präsidenten angeführt wird, fortsetzen, oder wird die Öffentlichkeit erkennen, wie lebenswichtig Erkenntnisse der Wissenschaft für die Gesellschaft und das Überleben in einer von globaler Erwärmung bedrohten Menschheit ist.
Die Präsidentschaftswahl im November könnte Antworten geben auf die beiden Fragen.