Die „unvereinigten“ Staaten von Amerika

Bekanntlich sind die Vereinigten Staaten von Amerikanern bewohnt. Deswegen neigen Deutsche dazu, wenn sie ein Urteil – negativ oder positiv – über die USA fällen, von „den Amerikanern“ zu sprechen. Wie die meisten Verallgemeinerungen, traf auch diese nie den wahren Sachverhalt. In einem Land, in dem Freiheit das höchste Ideal ist, gab es schon immer unterschiedliche Meinungen, Positionen und Interessen seiner Bürger. Dramatisches  Beispiel dafür liefert die Geschichte des Bürgerkriegs (1860-1865). Die Südstaaten, deren Ökonomie und Agrarwirtschaft auf Sklaverei beruhte, fühlten sich bedroht von den  industriell orientierten Nordstaaten und spalteten sich von ihnen ab. Dem damaligen Präsidenten Abraham Lincoln, für den die „Union“ der Staaten das höchste Ideal war, gelang es nach einem blutigen Krieg, der mit dem Sieg der Nordstaaten endete, nicht nur die Sklaverei abzuschaffen, sondern die „Union“, die Einheit der Nation zu erhalten.

Nie war es unzutreffender als heute, von „den Amerikanern“ zu sprechen, als heute, da sich zwei Gruppierungen unversöhnlich gegenüberstehen.

Erschreckend ist, dass seit dem Amtsantritt Donald Trumps als Präsident, in den Medien immer häufiger Artikel erscheinen wie „Amerikas kommender Bürgerkrieg“, „Der zweite Bürgerkrieg kommt“, also Warnungen, dass Amerika sich einem Punkt nähert, der mit 1860 vergleichbar ist. Eine Umfrage der Georgetown University vom Oktober 2019 ergab, dass 67,23 Prozent der Bürger der Meinung sind, dass die USA am „Rand eines Bürgerkriegs“ stehen.

Die Amerikaner im Jahr 2020 sind so polarisiert, dass man von den „unvereinigten oder geteilten Staaten“ sprechen muss. Dass  2020 ein Wahljahr ist, treibt die Verhärtung der Fronten zum Äußersten.

Im Zentrum der Auseinandersetzung steht Donald Trump, der seit drei Jahren amtierende republikanische Präsident. In einem Zweiparteiensystem ist es nur natürlich, dass die Demokratische Partei die traditionelle Rolle der Gegnerschaft übernimmt. Das tut sie auch diesmal, aber mit einer ungewöhnlichen, an Hass grenzenden emotionalen Intensität, die vom Präsidenten immer wieder absichtlich provoziert und genüsslich angeheizt wird. Die Sprache seiner täglichen Tweets und seiner Reden liegt auf dem Niveau eines Achtjährigen und bedient sich zum Zwecke der Beleidigung seiner Gegner oft obszöner Ausdrücke, die eine verantwortungsvolle Mutter ihrem Kind verbieten würde. Leisten kann er sich das, weil er sich der Unterstützung durch seine Anhänger sicher ist.

Pauschalisierend lässt sich sagen, dass republikanische Wähler sich vorwiegend aus jenen Kreisen rekrutieren, deren nicht unbeträchtlicher Kapitalbesitz durch Steuererniedrigungen noch ein bisschen mehr maximiert wird. Eine andere Bevölkerungsgruppe, auf die sich Trump verlassen kann, sind die konservativen, fundamentalistischen Christen, die sich Evangelikale nennen. Eine dritte Gruppe sind die meist aus ländlichen Gegenden stammenden, oder in Trailer Parks wohnenden, bildungsfernen Erfolglosen, die von Hillary Clinton unvorsichtigerweise „the deplorables“, die Trostlosen, genannt wurden. Eine letzte gewichtige Kategorie von Trump-Wählern ist nicht auf eine der genannten Gruppen beschränkt, sondern findet sich quer durch die Bevölkerung: es sind die fanatischen Waffenliebhaber, die, mit Berufung auf den zweiten Zusatz zur Verfassung, sich mit Hilfe der einflussreichen Lobby-Organisation National Rifle Association, leidenschaftlich dagegen wehren, dass Waffenbesitz gesetzlich kontrolliert und beschränkt wird. „Die Demokraten wollen euch die Waffen wegnehmen“, hetzt Trump sie auf, während sie ihm zujubeln.

Das gegnerische Lager besteht aus der Demokratischen Partei und all jenen, die Trump für den schlechtesten Präsidenten aller Zeiten halten. Verachtung und Hass für Trump einigt sie alle: Liberale und Progressive, rassische und sexuelle Minderheiten und die  „Elite“ – so Trumps Schimpfwort für Intellektuelle, Künstler und Gebildete.

Ein unbeschreiblich großer Schock war es für die Demokraten, als ihre allerseits favorisierte, politikerfahrene Präsidentschaftskandidatin, Hillary Clinton, 2016 von Trump besiegt wurde, einem Mann, der mit Immobilienhandel reich und mit einer Fernsehshow bekannt geworden war. Von sich reden machte Trump schon vor der Wahl mit der Behauptung, Präsident Obama sei ein illegitimer Amtsinhaber, da er in Afrika geboren sei. Das war Wasser auf die Mühlen all jener, die es skandalös fanden, dass ein Farbiger  Präsident war. Sie nahmen Trump auch all seine anderen Lügen nicht übel. Die Washington Post hat sie gezählt: in den ersten 828 Tagen seiner Amtszeit schaffte er mehr als zehntausend, die aber von seinen Fans  geglaubt wurden, weil er ihnen einredete, sie seien von den Medien erfundene „fake news“.

Erstaunlich, dass eine Nation, die traditionell in sexuellen Dingen eher zur Prüderie neigte, einen Präsidenten bekam, der bei seiner dritten Ehefrau angelangt war und der für Sex mit einem Pornstar und einem Playboy-Bunny Schweigegeld bezahlt hatte. Schamlos brüstete er sich seiner sexuellen Übergriffe bei Frauen. Auch seine Vorgeschichte als Geschäftsmann war für seine Wähler nicht relevant. Sechsmal hatte er Bankerott erklären müssen und behauptete dennoch, ungeheuer reich zu sein. Den Beweis dafür gibt es nicht, da er – im Unterschied zu all seinen Vorgängern – sich weigert, seine Steuererklärung offen zu legen. Dafür, dass die Evangelikalen bereit sind, den unmoralischen Charakter ihre Präsidenten zu ignorieren, gibt es einen Hauptgrund. Trump verspricht ihnen Unterstützung im Kampf gegen die Rechtmäßigkeit der Abtreibung. Wenn Trump, wie es ihm schon einmal gelungen ist, einen weiteren erzkonservativen Richter in den Obersten Gerichtshof einsetzten kann, ergibt sich die Möglichkeit, dass Abtreibung verboten wird.

Als Präsident verfolgt er eine Politik, die sich zum Ziel gesetzt hat, Amerika wieder „groß“ zu machen  –  ein Schlagwort, das seine Anhänger auf den vielen Wahlveranstaltungen zu Beifallsstürmen hinreißt. Der Rest der Welt schaut konsterniert zu, wenn er von seinen Vorgängern eingegangene internationale Verträge bricht – besonders gravierend das Klimaabkommen und der Atom-Deal mit Iran. Traditionelle Verbündete und Nato-Partner werden brüskiert, wogegen er für Diktatoren überraschend viel Sympathie aufbringt. Dass  Putin mit Hacker-Angriffen die Präsidentschaftswahl zugunsten Trumps manipuliert hat, wie der FBI herausgefunden hat, wird von Trump bestritten. Mit Kim Jong-un, dem nordkoreanischen Diktator,  hat Trump sogar laut eigener Aussage ein Liebesverhältnis: „We fell in love“, wir haben uns ineinander verliebt, sagte er wörtlich  und merkt nicht, wie lächerlich er sich macht. Erreicht hat er mit seiner Liebe zu Kim dennoch nicht, dass der Diktator ihm zuliebe seine Entwicklung von Atomwaffen gestoppt hätte.

Wissenschaftler dagegen gehören zu jenen Fachleuten, für die Trump überhaupt nichts übrig hat. Da sie behaupten, es gäbe Klimawandel, gegen den man alle Kräfte mobilisieren müsste, hat Trump sie aus Regierungsämtern gefeuert, weil er es besser weiß: Klimawandel ist ein von Chinesen erfundener Schwindel, um Amerika im industriellen Wettbewerb zu benachteiligen. Folglich fördert  Trump den Gebrauch von Kohle und hebt viele von Obama eingeführte Umweltschutzmaßnahmen auf. Außerdem hat er die amerikanische Teilnahme am Pariser Klimaabkommen zurückgezogen.

Dass die versprochene Mauer an der Grenze zu Mexiko nun doch nicht von Mexiko bezahlt wird, wie Trump versprochen hat, ist inzwischen von seinen Anhängern wohlwollend vergessen worden. Doch der Kampf gegen unwillkommene Ausländer, vor allem Muslime und Latinos, wird weiterhin leidenschaftlich geführt. Wenn illegale Familien mit Kindern an der Grenze festgenommen werden, werden die Kinder von ihren Eltern getrennt und in Lagern eingesperrt.

„Wir wollen unser Land zurückholen“ lautet ein anderer Schlachtruf Trumps und seiner Trumpisten. Das Land, das sie zurückholen wollen, ist das Land, das den weißen Amerikanern früher noch allein gehörte. Jedoch diese Zeiten sind vorbei. Im Jahr 2019 ist die Zahl der nicht-weißen Schüler, die zum ersten Mal eingeschult wurden, größer als die Zahl der weißen Schüler. Das heißt,  dass das zukünftige Amerika überwiegend braun sein wird und in dem die Weißen nur noch eine Minderheit sind.

In diesen Tagen haben die die Demokraten ein Amtsenthebungsverfahren (impeachment) gegen Trump eingeleitet. Sie beschuldigen ihn, die Ukraine mit der Zurückhaltung einer vom Kongress beschlossenen Millionenunterstützung erpresst zu haben mit der Bedingung, Obamas Vizepräsidenten Joe Biden korrupte Machenschaften in der Ukraine nachzuweisen. Naheliegendes Motiv für Trumps Erpressungsversuch ist der Umstand, dass Biden einer der aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten ist, der Trump gefährlich werden könnte. In Verbindung damit steht als zweiter Anklagepunkt „Behinderung der Justiz“, die darin bestand, dass Trump wichtigen Zeugen die Aussage verbot. Statt sich mit den Anklagepunkten in der Sache zu befassen, beschränken sich die Republikaner auf Kritik der prozeduralen Vorgehensweise. Da sie im Interesse der Partei determiniert sind, Trump nicht fallen zu lassen, und da sie die Mehrheit im Senat haben, darf sich Trump sicher fühlen.

Das Amtsenthebungsverfahren steigert die Verbitterung der beiden gegnerischen Lager, in die sich die Nation aufgespalten hat. Emotionen gehen hoch. Nachbarn reden nicht mehr miteinander, selbst Familienbande drohen zu zerreißen. Es scheint, als tobe ein ständiger unterschwelliger Bürgerkrieg im Leben der Amerikaner. In solch historisch bedeutsamer Situation wäre es die höchste Aufgabe eines Präsidenten alles zu tun, die Spaltung zu überwinden. Trump tut nichts dergleichen – im Gegenteil, er gießt Öl ins Feuer. In Wahlkampfveranstaltungen heizt er die Stimmung mit den Tricks eines Showmans auf und bringt seine Fans zum frenetischen Beifallsgebrüll. Unzählige tägliche Tweeds dienen ihm dazu, Lügen zu verbreiten und seine Gegner und die öffentlichen Medien, mit Ausnahme seines Lieblingssenders Fox TV, zu beschimpfen und zu provozieren.

Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs, richtete Abraham Lincoln in seiner ersten Antrittsrede  denkwürdige Worte an seine Landsleute, vor allem aber an die sieben Südstaaten, die sich von der Union getrennt hatten: „Wir sind nicht Feinde, wir sind Freunde. Wir dürfen nicht Feinde sein. Auch wenn Leidenschaft sie belastet haben, so dürfen doch die Bande der Zuneigung nicht zerreißen.“ Er beendete seine Rede mit dem Ausdruck der Hoffnung, dass Amerika wieder durch die „besseren Engel unserer Natur“ (better angel of our nature) geleitet wird. Noch sieht es nicht so aus, als wollte das heutige Amerika den „besseren Engeln“ folgen (First Inaugural Address, Capitol, Washington 4.3.1861).

Was Trump Position stärkt und was seine Chancen auf Wiederwahl vergrößert ist die boomende Wirtschaft des Landes. Neue Jobs entstehen, die Arbeitslosigkeit ist auf niedrigstem Niveau und die Aktien bewegen sich unaufhörlich nach oben. Eine Steuererniedrigung, von der vor allem die sehr Reichen profitieren, hat sicherlich wichtige Impulse dazu geleistet. Dennoch sagen Experten, dass die Erholung der Wirtschaft schon unter Präsident Obama begonnen hat. Was die republikanische Partei, die traditionell die Reputation hatte, sich für einen sparsamen Haushalt einzusetzen, heutzutage völlig zu vergessen scheint, ist, dass das nationale Budgetdefizit wächst und wächst und inzwischen astronomische Höhen erreicht hat. Das bedeutet, dass der Preis für die blühende Wirtschaft von späteren Generationen bezahlt werden muss. Sollte eine florierende Wirtschaft wirklich die entscheidende Begründung für die Wahl eines Präsidenten sein?

Ende des Jahres 2020 wählen die  Amerikaner nicht nur ihren Präsidenten, sie wählen damit auch das Wertesystem, dessen Prinzipien vom Präsidenten repräsentiert werden. Im Jahr 1630 ermahnte der Puritaner John Winthrop die Kolonisten der Massachussetts Bay Colony, dass ihre Kolonie „eine Stadt auf einem Hügel“ (city upon a hill) sei, auf die sich die Augen der Welt richten würden. Er meinte damit, dass die neue Welt, Amerika, ein Vorbild für die restliche Welt sein müsse, ein Symbol für christliche Ideale.  Präsident Kennedy griff in einer Rede das Zitat auf und wiederholte die Forderung, Amerika zu der Verkörperung moralischer Prinzipien zu machen (Rede vor dem Joint Convention of the General Court oft he Commonwealth of Massachusetts, Boston, 9.1.1961).

Auch Präsident Reagan erinnerte in seiner Rede „Eine Vision  für Amerika“ an Winthrop und „die Stadt auf einem Hügel“. Er fügte zur Verstärkung ein Adjektiv hinzu und sprach von der „leuchtenden Stadt auf einem Hügel“ und der Entschlossenheit Amerikas, dass „junge Amerikaner immer eine Stadt der Hoffnung finden, die frei ist.“ Reagan beendete seine Rede mit  den Worten: „Und lasst uns sicher stellen, dass sie von unserem Tag und unserer Generation sagen werden, dass wir uns den Glauben an Gott erhalten haben, dass unser Handeln unser würdig war, dass wir liebevoll die leuchtende Stadt beschützen und weitergeben.“ (Rede am Wahlabend, 3.11.1980)

In seiner Abschiedsrede im Jahr 1989 erläuterte Reagan  seine Vision von der Stadt auf dem Hügel: „Im Geiste war es eine große, stolze Stadt, auf Felsen gebaut, die stärker als windgeschüttelte Ozeane war, von Gott gesegnet, und wimmelnd von in Frieden und Harmonie lebenden Menschen aller Art, eine Stadt mit offenen Häfen, die erfüllt waren von Handel und Kreativität. Und wenn es Stadtmauern hat geben müssen, dann Mauern mit Toren und Toren, die für jeden geöffnet waren, der den Willen und das Herz hatte, hierher zu kommen“ (Reagan’s Farewell Address to the Nation from the Oval Office, 11.1.1989). Welten liegen zwischen Reagans und Trumps Vision von Amerika. Dass Reagan vor seiner politischen Laufbahn Schauspieler war, trug sicherlich dazu bei, dass er seine oft poetischen Worte mit einer wirkungsvoller Emotionalität vortragen konnte, der sich auch seine politischen Gegner nicht entziehen konnten. Er sprach für alle Amerikaner.

Als letzter Präsident einer großen amerikanischen Tradition erwähnte Barak Obama in einer Rede in Boston die Stadt auf einem Hügel: „ Es war genau hier in den Wassern um uns, wo das amerikanische  Experiment begann. Als die frühesten Siedler an den Ufern von Boston und Salem und Plymouth ankamen, träumten sie davon, eine Stadt auf einem Hügel zu bauen. Und die Welt beobachtete, wartete darauf zu sehen, ob diese unwahrscheinliche Idee, genannt Amerika, ein Erfolg werden würde“ (Commencement Address, University of Massachussetts, 2.6.2002).

Die Zitate zeigen, wie Amerikas Präsidenten vor Präsident Trump, trotz unterschiedlicher politischer Positionen, immer bemüht waren, Gräben in der Bevölkerung zu überbrücken. Sie fühlten sich verantwortlich für die Union, für das ganze Amerika, das vor fast vierhundert Jahren als Manifestation einer Idee entstand, der Idee eines menschheitsgeschichtlichen Neubeginns, einer neuen Gesellschaft. Amerika war und ist noch immer ein Experiment, wie Obama es skeptisch und doch hoffnungsvoll bezeichnet. Generationen haben an dem Experiment mitgearbeitet – es ist noch nicht beendet.

Werden in den kommenden Wahlen die „besseren Engel“, von denen Lincoln sprach, die Amerikaner zur Besinnung bringen?