Herr Wohlgemut kämpft gegen amerikanische Einflüsse

          

Neulich traf ich mal wieder ganz zufällig Herrn Wohlgemut. Er saß auf einer Bank im Park und schien in Nachdenken versunken zu sein, denn er sah mich nicht. Ich kannte ihn als einen, der sich seine Gedanken über alles  machte, sich dann eine Meinung bildete, die meist meilenweit abwich von der Meinung, die andere Leute zu dem Thema hatten. So zögerte ich nicht, ihn anzusprechen. Ich näherte mich ihm, lüpfte meine Corona-Maske, damit er mich erkennen konnte, und begrüßte ihn mit dem neudeutschen Standardgruß: einem gutgelaunten „Hallo“. „Wie wär’s mit  ‚Guten Tag‘ “, fragte Herr Wohlgemut, „auch wenn man in Amerika ‚Hello‘ sagt, wir sind hier in Deutschland, und hier sagen wir seit Jahrhunderten ‚Guten Tag‘.“

Trotz dieser Zurechtweisung schien sich Herr Wohlgemut über das Wiedersehen zu freuen. Er rutschte auf das eine Ende der Bank und bot mir einen Platz am entfernten anderen Ende der Bank an, obwohl auch er die schützende Maske trug.

„Social Distancing“, sagte ich verständnisvoll, „wir alle müssen darunter leiden.“ „Leiden?“, rief er, „ganz im Gegenteil, ich genieße Social Distancing! Das ist das einzig Positive an dieser ganzen verdammten Pandemie. Sie ist ein Segen für unsere Gesellschaft!“

„Sie scherzen, das meinen Sie doch nicht wirklich?“ verwunderte ich mich.

„Und ob ich das meine! Hören Sie mir jetzt einmal gut zu,  junger Mann. Wenn Sie Zeit haben,  will ich Ihnen gern erklären, wie ich zu meiner Überzeugung gekommen bin.“

Zwar hatte ich nicht viel Zeit, wollte mir aber nicht die Gelegenheit entgehen lassen, zu erfahren, mit welch abwegigen Gedankengängen er seine Meinung begründen würde. Ich ermutigte ihn daher, zu erklären.

„Alles fing schon in meiner Schulzeit an. Der Französischlehrer wollte uns nicht nur die Sprache, sondern die Mentalität dieses Nachbarlandes nahe bringen. Dazu gebrauchte er immer wieder einen Satz, der angeblich eine wesentliche Regel ausdrückte, die das gesellschaftliche Leben der Franzosen bestimme. Er lautete ‚Gardez la distance‘. Schon als Schüler war ich von der Haltung, die sich in dem Satz ausdrückt, beindruckt. Ob er in französische Mentalität wirklich eine große Rolle spielte oder spielt, kann ich nicht aus eigener Erfahrung bestätigen. In ihm verkörpern sich jedoch zwei wesentliche Ideen: Respekt vor dem Gegenüber bei gleichzeitigem Schutz des eigenen, privaten Bereichs.

Aus eigener Erfahrung kann ich jedoch über angelsächsische Gepflogenheiten berichten, z.B.  wie sich Engländer bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bei einer Begegnung verhielten. Man sagte distanziert und mit ziemlich unbewegter Miene ‚How do you do‘, eine Frage, auf die man keine Antwort erwartete. An Händeschütteln war nicht zu denken, schon deswegen nicht, weil die Hände oftmals in der Hosentasche blieben. Gefühlsregungen zeigen, emotionale Ausbrüche gar, waren dem Angelsachsen ein Graus. Diese unterkühlte Distanz bestand sowohl zu Männern als auch zu Frauen.

Ganz anders in den USA. Da wurde zwischen den Geschlechtern differenziert. Traf ein Mann ein Ehepaar, so schüttelten sich die Männer die Hände,  die Frau jedoch wurde nicht mit Handschlag begrüßt. Dem neu angekommenen Europäer fiel es schwer sich daran zu gewöhnen, der Frau nicht die Hand zu reichen. Ihm erschien es als Gipfel der Unhöflichkeit sich zu verhalten, als ignoriere er die Frau. Die jedoch war mit dieser scheinbar unhöflichen Behandlung völlig einverstanden.

Überhaupt war das amerikanische Verhältnis der Geschlechter zueinander für den Europäer gewöhnungsbedürftig. Beim Empfang zu einer Party wurde man freundlich begrüßt, nicht unbedingt mit Handschlag und schon gar nicht mit einer Umarmung. Überraschend für den Europäer war zu sehen, wie die am  Anfang noch gemischte Männer-Frauen Gruppe sich auflöste und  die Frauen sich in eine Ecke des Zimmers oder gar in ein anderes Zimmer zurückzogen und die Männer sich allein überließen. Nicht nur räumliche Distanz bestand. Auch zwischen den Gesprächsthemen der Männer und denen der Frauen gab es kaum Gemeinsamkeiten. Männer sprachen über Sport und Geschäfte. Frauen unterhielten sich über sogenannte Frauenthemen wie Mode, Kochrezepte und  – wenn es eine gehobenere Gesellschaft war – noch über Kunst.

All das änderte sich radikal im letzten Viertel des Jahrhunderts – sicherlich als verspätete Nachwirkung der 68er-Revolution in Amerika.  Ihr fielen nicht nur traditionelle Moralvorstellungen zum Opfer. Sie stieß  auch bisherige Benimmregeln über den Haufen. Eine junge Generation hasste Konformität und traditionelle Verhaltensmuster, liebte Freiheit und Selbstbestimmung und entschied sich, ihre Emotionen ungehindert auszudrücken. Die alten gesellschaftlichen Regeln und Gewohnheiten galten als unehrlich, wenn nicht gar als verlogen. An ihre Stelle setzten sie den spontanen Ausdruck  der ungefilterten und ungehemmten Emotion. Liebende verwarfen die alten bürgerlichen Rituale und lebten ihre Liebe frei und ungeniert vor aller Welt. Sie umarmten und küssten sich in aller Öffentlichkeit, und die Öffentlichkeit fand diese Natürlichkeit reizvoll und nachahmenswert. Es war nicht einzusehen, warum Menschen, die sich mögen, ob Mann oder Frau, sich nicht umarmen und küssen dürfen. Dies sagte man und begann damit, nicht nur wie bisher enge Verwandte, sondern bei einer Begegnung alle möglichen Leute, die man nicht direkt unsympathisch fand, zu umarmen. Alle wurden zu Brüdern und Schwestern – Jesus und Karl Marx hätten sich gefreut. Meist blieb es nicht bei der bloßen Umarmung, sie wurde ergänzt durch einen Kuss auf eine Wange, wobei oft Unsicherheit im Spiel war, ob auf die linke oder rechte Wange geküsst werden sollte. Körperliche Berührung sollte Nähe, Vertrauen und Zuneigung ausdrücken. Keine Rede von „Gardez la distance“, keine Rede mehr von der Warnung „Bleib mir vom Leib“. Der Umarmungskult war so mächtig, dass er sich nicht nur in den USA durchsetzte. Von Amerika ausgehend – wie viele Unsitten – wanderte er um die Welt. Auch in Deutschland umarmt und küsst man sich heute.

Warum imitieren wir Deutsche so hingebungsvoll die Amerikaner? Das amerikanische ‚Hello‘ wurde verdeutscht und verdrängte die althergebrachte Begrüßung. Wir sagen heute ‚Hallo‘ und dann umarmen wir  uns.“

Herr Wohlgemut hatte sich richtig in Rage geredet, und es schien mir an der Zeit, ihn ein wenig zu besänftigen.

„Aber was lässt sich dagegen einwenden, wenn Menschen sich ihre Sympathie mit einer herzlichen Umarmung zeigen? Die körperliche Berührung vermittelt Gefühle viel direkter als Worte und eine Umarmung ist ehrlicher Ausdruck von Zuneigung.“

„Ha, ha, ha“ lachte Herr Wohlgemut. „Wie naiv Sie doch sind, wenn Sie das glauben. Was ursprünglich als ehrlicher Akt von Zuneigung oder Liebe gedacht war, als ein unkonventioneller, spontaner Ausdruck von Emotion, ist degeneriert zu einer sozialen Konvention, ja zu einem sozialen Zwang, denn wer kann sich heute noch den ständigen Umarmungen verweigern? Ehrlichkeit! Haben Sie einmal gehört, wie hinterhältig böswillig eine Frau über eine andere Frau sprechen kann, die sie gerade eben noch umarmt hat?

Jetzt werden Sie vielleicht verstehen, warum ich dieser schrecklichen Pandemie für eines dankbar bin: für Social Distancing, für das Verbot der Umarmung, die doch nur eine verkommene gesellschaftliche Zwangshandlung ist. Solange Social Distancing anhält, muss ich mich nicht mehr gegen Umarmungen wehren.“

Es schien mir an der Zeit,  mich von Herrn Wohlgemut zu verabschieden – ohne Umarmung. Er winkte mir  freundlich zu –  aus angemessener Distanz.

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