Amerikas Exzeptionalismus

In einem Interview machte Dick Cheney, Vizepräsident von George W. Bush, dem amtierenden Präsidenten Barak Obama den größten Vorwurf, den man einem Amerikaner machen kann: “Obama glaubt nicht an den American Exzeptionalismus – die Idee, dass die Vereinigten Staaten eine besondere Nation sind, dass wir die größte, freieste Nation sind, die die Menschheit je gekannt hat.” (Politico, 01.12.2009)

Der britische Historiker Paul Johnson war folgender Ansicht: “Die besten amerikanischen Präsidenten, von George Washington bis Abraham Lincoln, Theodore Roosevelt und Ronald Reagan, sahen Amerika immer als eine exzeptionelle Nation an. Für sie war es die ideale Nation, großherzig, weise, demokratisch und wohlwollend, manchmal in der Praxis versagend, aber immer bemüht eine Kraft für das Gute zu sein. Teilt dieser Präsident (Obama) diese Sicht?” (Forbes, 14.12.2009)

Cheney ist überzeugt, dass Obama diese Sicht nicht teilt, Johnson geht nicht ganz so weit, aber auch er stellt Obamas Haltung in Frage. Keinen Zweifel aber gibt es daran, dass die überwältigende Mehrheit der Amerikaner – nicht nur die im konservativen Lager, sondern auch moderate und liberale – davon überzeugt sind, einen Ausnahmestatus unter allen Nationen der Welt zu haben, dass sie einzigartig sind. Lediglich eine linke Minderheit steht dieser Sich kritisch gegenüber oder lehnt sie völlig ab. Nicht an diese Einzigartigkeit zu glauben, ist unpatriotisch, ist “unamerikanisch” und also nichts Geringeres als Verrat am Heimatland.

Bestätigt dürfen sich Amerikaner fühlen durch die Beobachtung eines Franzosen, Alexis deTocqueville, der bei seinen Reisen in den USA (1831) zu dem Ergebnis kam: “ Die Situation der Amerikaner ist … ziemlich exzeptionell, und man darf annehmen, dass kein demokratisches Volk jemals in eine ähnliche (Situation) kommt” (Democracy in America, 1835).

Wie ist es möglich, dass der Begriff des amerikanischen “Exceptionalismus” zum zentralen Selbstidentifikationskriterium werden konnte? Die Antwort ergibt sich aus den Gründungsmythen des Landes und der sich daraus entwickelnden Geschichte.

Die USA wurden geboren zu einem Zeitpunkt in der Geschichte des Westens, als emanzipatorische Kräfte in Europa begannen, die Rolle des Staates zu begrenzen. Die Bevormundung durch Staat und Kirche sollte beendet und den Menschen die Freiheit der individuellen Gewissensentscheidung gegeben werden. Parallel dazu verlief die Ablösung des mittelalterlichen merkantilistischen Wirtschaftssystems durch eine liberale Wirtschaft, die dem Handel durch das ‘laissez-faire’-Prinzip alle möglichen Freiheiten bot. Die neue Welt Amerika lieferte den idealen Nährboden für diese beiden Emanzipationsaspekte, da sie sich hier – im Unterschied zu Europa – ohne Behinderung durch Tradition frei entfalten konnten.

Seit seinen Anfängen war das Land bemüht, seine Aktionen in Einklang mit seinem Gewissen zu bringen. Wie kann Amerika ein Vorbild sein für Gerechtigkeit in einer Welt, in der Macht noch immer der dominierende Faktor ist? Wie kann es als die noch immer bedeutendste Militärmacht Mittel mit Zweck, moralische Prinzipien mit erfolgreichem Überleben versöhnen? Als einzige Nation verdankt Amerika seine Gründung einem ganz bewussten Akt von Menschen, die sich ethischen und politischen Prinzipien verpflichtet fühlten, von denen sie glaubten, dass sie universale Bedeutung hätten, weil “alle Menschen gleich geschaffen sind”, wie es in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt.

George Santayana kam zu dem Urteil: “To be an American is of itself almost a moral condition …” (Materialism and Idealism in the American Character, 1920). Im Spannungsfeld von hohen ethischen Idealen einerseits und realistischen Notwendigkeiten ist es den Gründern gelungen, in der Verfassung eine Synthese von ethischen Prinzipien und pragmatischen Rezepten zu schaffen, die undogmatisch und undoktrinär das Miteinander der Menschen regeln. Freiheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft sollten es dem Einzelnen ermöglichen, den Weg zu seinem selbstgewählten Glück zu gehen. Was die Gründer allerdings übersahen war die Tatsache, dass die Verfassung auf zwei Bevölkerungsgruppen überhaupt keine Rücksicht nahm. Aus Afrika importierten Sklaven und den Ureinwohnern wurden alle Rechte verweigert. Freiheit und Streben nach Glück war ausschließlich ein Privileg der weißen Bevölkerung. Darin besteht der Sündenfall der Menschen, die das korrupte, von Machtkämpfen zerrissene Europa hinter sich gelassen hatten und angetreten waren, eine neue, friedliebende, gerechte Gesellschaft zu schaffen. Seitdem durchzieht der Konflikt zwischen idealistischem Streben und ihm nicht selten widersprechendem pragmatischen Handeln die Geschichte Amerikas und ist zu einem wichtigen Aspekt des nationalen Charakters geworden. Zweifel hinsichtlich des Prinzips Gerechtigkeit kommen auch auf z.B. angesichts der wachsenden Kluft zwischen Armen und Reichen. Und die Menschen, die geglaubt hatten in der neuen Welt ohne die politischen und militärischen Kämpfe Europas leben zu können, müssen feststellen, dass es Entwicklungen gibt, die immer wieder militärische Interventionen zur Folge haben, bei denen die moralische Begründung schwer fällt. Daher ist die amerikanische Bemühung nur allzu verständlich, in einer modernen Welt sich bei allen möglichen Gelegenheiten die Erinnerung an eine glorreichen Vergangenheit wachzurufen und patriotisch die alten “amerikanischen” Werte zu beschwören. Reagan war darin ein Meister.

Was hat es auf sich mit der City on the Hill, an die Reagan erinnerte? Im Jahr 1630, noch bevor die Pilgerväter das Land betraten, auf dem sie schon bald die Massachusetts Bay Colony gründen würden, hielt John Winthrop, der spätere erste Gouverneur von Massachusetts, eine Predigt, in der er die ganz besondere Bedeutung hervorhob, die die puritanischen Gemeinschaft in ihrer neuen Heimat, Amerika, haben werde: “Wir müssen uns vor Augen halten, dass wir wie eine Stadt auf einem Hügel sind. Die Augen aller Menschen sind auf uns gerichtet, so dass, falls wir fehlen vor Gott in dem Werk, das wir uns vorgenommen haben, … man von uns erzählen wird und wir eine Zielscheibe des Spotts in der ganzen Welt werden.” Schon hier drückt sich der Anspruch aus, dass Amerika eine von Gott auserwählte Nation ist, die als ein Vorbild für die ganze Welt dienen soll. Religiöse Implikationen überlagern die gesamte amerikanische Geschichte von den puritanischen Anfängen der Nation bis heute. Um Amerika zu erklären, muss man erklären, wie der religiöse Glaube die Totalität seiner Grundwerte geprägt und politische Entscheidungen beeinflusst hat.

In den letzten Jahrzehnten ist von Konservativen und christlichen Fundamentalisten die Behauptung aufgestellt worden, Amerika sei von den Gründungsvätern in der Verfassung als eine christliche Nation konzipiert worden. Die amerikanische Verfassung von 1787 ist in der Tat eine Besonderheit, auf die Amerikaner besonders stolz sind: es ist die älteste schriftliche demokratische Verfassung in der Welt, die noch heute gültig ist. Aber nur zweimal nimmt sie Bezug auf religiöse Belange. Erstens: Artikel 6 bestimmt, dass niemals ein “religiöser Test” als Qualifikation für ein öffentliches Amt verlangt werden darf. Zweitens: Das erste Amendment, ein Zusatz zur Verfassung von 1791, verbietet der Regierung die Beschränkung der freien Religionsausübung und die Etablierung einer nationalen Kirche. Das bedeutet, dass der Bürger geschützt ist von jeglicher staatlicher Beeinflussung oder gar Zwang und frei ist, seinen Glauben zu leben, wie es ihm das Gewissen gebietet. Ansonsten kommt weder Gott noch Christentum in der Verfassung vor.

Bedeutet dies aber, dass die Autoren unchristlich oder gar unreligös waren? Eigentlich ist die Beantwortung der Frage überflüssig, denn die Autoren der Verfassung, ob sie nun christlich, agnostisch oder atheistisch waren, stimmten darin überein, dass die religiösen Überzeugungen oder das Fehlen solcher Überzeugungen einer Person irrelevant waren im Hinblick auf ihre Qualifikation für ein öffentliches Amt. Die Nicht-Erwähnung Gottes in der Verfassung veranlasste schon damals empörte gläubige Zeitgenossen, die Verfassung ein “gottloses Dokument” zu nennen, womit sie – wörtlich genommen – Recht hatten. In Wirklichkeit war aber die Nicht-Erwähnung Gottes nicht als Missachtung der Religion zu verstehen. Im Gegenteil: Die meisten Gründerväter waren aufgeklärte, undogmatische Deisten, die durchaus vom Wert der Religion und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft überzeugt waren. Sie wollten religiöse Überzeugungen vor Korruption durch politischen Missbrauch schützen.

Madison erinnerte sich wohl daran, wie brutal und intolerant die Puritaner früher gegen Glaubensabweichler vorgegangen waren. Deswegen warnte er davor, dass die leidenschaftliche Verfolgung religiöser Überzeugungen nicht zur Kooperation im Interesse des allgemeinen Wohls führen, sondern zu gegenseitigem Hass und Unterdrückung (Federalist Papers No. 10). Statt dessen sollte civic virtue als eine Zivilreligion die Leitidee für eine Gesellschaft sein.

“Zivilreligion” ist zu verstehen als moralische und spirituelle Grundlage einer Gesellschaft, die wie ein Zement ihre unterschiedlichen Kräfte und Gruppierungen zusammenhält und zu einer Einheit verbindet. Diese Art von Einheit schafft eine Gesellschaft, in der religiöser Pluralismus gemeinsame Werte und Glaubensinhalte umfasst, die in gemeinschaftlichen Ritualen gelebt werden. Die Nation erlangt dadurch eine sakrale Autorität, die sich ihre überkonfessionellen Symbole und Rituale erschafft wie z.B. die Nationalhymne oder patriotische Feiertage. Auch wenn der Präsident eine Rede rituell mit: “God bless the United States of America” beendet, ist damit nicht der Gott einer bestimmten Religion gemeint, sondern Gott als der Schöpfer, wie er in der Einleitung zur Unabhängigkeitserklärung von 1776 verstanden wird: “Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass unter diesen sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.”

Dieser Satz ist wohl der folgenreichste in der amerikanischen Geschichte. Fast jeder Amerikaner kennt ihn und sieht in ihm die Formulierung von Prinzipien, aus denen sich Demokratie als Ideal und praktische Staatsform begründet. So ist es für den nichtfundamentalistischen demokratischen Christen kein Problem die von der Verfassung vorgegebene Rolle von Kirchen im Staat zu akzeptieren. Kirchen nämlich dürfen und müssen ohne Einmischung des Staates allein von der freiwilligen Unterstützung durch ihre Mitglieder existieren. Gerade dies mag ein Grund dafür sein, dass Kirchen in den USA so viel lebendiger sind als die etablierten Kirchen in Europa.

Die meisten Amerikaner sind der Meinung, dass die Verfassung eine “Mauer der Trennung zwischen Kirche und Staat” verlange. Wie religiöse Fundamentalisten behaupten, sei diese Meinung das Ergebnis von “Gehirnwäsche” der Öffentlichkeit durch Säkularisten und sei unwahr. In der Tat stammt diese schlagkräftige Formulierung nicht aus der Verfassung, sondern aus einem privaten Brief Thomas Jeffersons, Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und späterer Präsident, an die Danbury Baptisten in Connecticut. Die Tatsache aber, dass diese These – wenn auch unter falschen Prämissen – Teil des kollektiven Bewusstseins der Amerikaner geworden ist, ist Ausdruck ihrer die Gesellschaft prägenden Kraft.

Es ist bezeichnend, dass eine große Nation wie die Vereinigten Staaten, die als erste gegründet wurde auf dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, dennoch wie keine andere im Lauf ihrer Geschichte wesentlich determiniert wird von religiösen Strömungen in ihrer Gesellschaft. Wer Amerika erklären will, muss erklären, wie der religiöse Glaube die Totalität seiner Grundwerte geprägt und politische Entscheidungen beeinflusst hat. Jimmy Carter beschreibt die Besonderheit des amerikanischen religiösen Lebens: “Unter den Bürgern der westlichen Demokratieen verkörpern wir Amerikaner auf einzigartige Weise eine starke und unablenkbare Verpflichtung gegenüber unseren vielfältigen religiösen Glauben” (Vorwort zu Jim Wallis, The Great Awakening, 2008).

Der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und dem folgenden Krieg ging voraus das sogenannte First Great Awakening. Dieses “Erste Große Erwachen” fand statt in den 30-er und 40-er Jahren des 18.Jahrhunderts als die puritanische Leidenschaft der Anfangsjahre geschwunden war und abgelöst wurde von einer Gesinnung, die sehr auf materialistischen Erfolg ausgerichtet war. Die Gelegenheiten für unternehmensfreudige, geschickte und kommerziell kreative Menschen waren endlos. Handwerker und Kaufleute hatten sich nach schwierigen Anfangsjahren der Existenzgründung einen materiellen Wohlstand erarbeitet. Das bedeutete aber nicht, dass Religion an Wichtigkeit verloren hätte. Im Gegenteil: Die Kolonien wurden plötzlich erfasst von einer populären Welle der religiösen Emotionalität und Spiritualität, von der Historiker sagen, dass mit ihr die speziell amerikanische Version des Christentums begründet wurde.

Deutsche Einwandere brachten religiöse Konzepte des Pietismus mit in das neue Land, die betonten, wie wichtig es sei, ein gottgefälliges Leben zu führen, anstatt sich von Disput über doktrinäre Regeln und Definitionen von der spirituellen Begegnung mit Gott ablenken zu lassen. Schlüsselfiguren der Bewegung waren William Tennent, Jonathan Edwards und George Whitefield. Besonders berühmt ist Edwards’ Predigt “Sünder in den Händen eines zornigen Gottes”, die detailliert die Höllenqualen eines Sünders beschreibt, aber auch die Gnade Gottes für den wahren Gläubigen in Aussicht stellt, so dass Zuhörer seiner Predigt in hysterische Weinkrämpfe ausbrachen. Wanderprediger zogen durch die dreizehn Kolonien, predigten nicht nur in Kirchen, sondern veranstalteten mehrtägige Camp Meetings in Zelten. Noch heute gibt es Kirchen, die sich der Rituale des “Awakening” bedienen und Camp Meetings veranstalten, wo durch Singen und Beten die Präsenz Gottes beschworen wird und der Einzelne sich ihm in emotionaler ekstatischer Hingabe öffnet und nicht selten “in Zungen”, also in einer nur Gott verständlichen Sprache zu reden beginnt

Die große Bedeutung des ersten “Awakening” liegt darin, dass hier der Grundstein für die spezifisch amerikanischen Version der Religion liegt. Sie beruht auf der Überzeugung, dass das Individuum allein die höchste Instanz für die Erkenntnis der Wahrheit ist und dass es keiner anderen Autorität bedarf, um die Begegnung mit Gott zu ermöglichen. Das war die endgültige Absage an religiöse Orthodoxie und der Triumph des Individuums. Einerseits waren es solche Ideen, die zu Wegbereitern der Unabhängigkeits- erklärung und der späteren Philosophie Emersons und Thoreaus wurden, andererseits aber hatte das “Große Erwachen” und seine Folgen auch Schattenseiten, insofern als es oft genug in Demagogie, Irrationalität und Massenhysterie ausartete. Unter politischen Aspekten gesehen, zeigt sich, dass das “Große Erwachen” und die Dynamik dieser Bewegung folgerichtig zur Unabhängigkeitserklärung von 1776 führte. Die frühen Einwanderer kamen, um der korrumpierten Religion ihrer alten Heimat zu entgehen und ihre “reine” puritanische Religion in Freiheit zu praktizieren. The First Great Awakening entfachte aufs Neue eine religiöse Leidenschaft, die sich auflehnte gegen jede Art der Bevormundung. Dieses Streben nach Unabhängigkeit gipfelt schließlich in der Unabhängigkeitserklärung, die nicht nur als ein politischer, sondern auch als ein religiöser Akt gesehen werden muss. Sie bedeutet nämlich Emanzipation von politischer und gleichzeitig religiöser Unfreiheit.

Das “Zweite große Erwachen” fällt in die Zeit zwischen 1790 und 1840 und spielte sich vor allem unter den Siedlern ab, die immer weiter nach Westen drängten. Wanderprediger, die oft gigantische Camp-Meetings veranstalteten, brachten nicht nur die religiöse Botschaft, sondern auch Abwechselung und Unterhaltung in das monotone Leben im Grenzland. Das berühmteste Camp-Medeting fand 1801 in Cane Ridge, Kentucky, statt, an dem an die zwanzigtausend Menschen teilgenommen haben sollen. In besonderem Maß spielte sich hier ab, was seitdem ein Charakterzug fundamentalistisch-evangelikalen Christentums bis in unsere Tage ist: ein von Außenstehenden mit Befremden betrachtetes ekstatisches, frenetisches, irrationals Verhalten der Teilnehmer. Bei diesen im Freien stattfindenden Versammlungen heizten die Prediger die allgemeine Stimmung zu einem religiösen Taumel auf, in dem manche Gläubigen Schreie ausstießen, zur Erde fielen und wie tot liegen blieben. Andere verfielen in Zuckungen, die ihre Gesichtszüge verzerrten und bellten oder knurrten, während der Kopf vor und zurückschnellte, wiederum andere brachen in hysterisches Gelächter aus und begannen zu rennen oder zu tanzen.

Noch heute lassen sich diese Verhaltensweisen z.B.in den Gottesdiensten des afro-amerikanischen T.D. Jakes beobachten, der sich selbst zum Bischof einer über dreißigtausend Mitglieder zählenden überkonfessionellen Mega-Kirche ernannt hat. Wie kann so etwas möglich sein in einem Land, das führend ist in Wissenschaft und Technologie? Damals war das Camp Meeting für den Siedler eine Möglichkeit, in der religiös aufgeheizten Gemeinschaft mit anderen der Mühseligkeit seiner einsamen täglichen Arbeit für ein paar Tage zu entrinnen. Heute ist es die moderne, oft als sinnleer erlebte Welt und der Stress des Alltags, dem der Amerikaner zu entfliehen versucht, indem er sich dem Rausch der religiösen Ekstase hingibt. Europäische Länder haben heutzutage – in der Regel unter dem Einfluss von Alkohol und anderen Drogen – andere Arten des Eskapismus, der aber dennoch immer auch eine Art Sinnsuche sein kann. Jedenfalls bedeutet die religiöse Ekstase für den amerikanischen evangelikalen Christen den Ausbruch aus der Routine des Alltags und säkularer Sinnentfremdung. Es ist wieder eine Art Rebellion und Emanzipation, eine ekstatisch erlebte amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die sich gegen das materiell bestimmte Leben richtet – wenigstens für die Dauer der Ekstase – und sich zur Macht des Spirituellen bekennt.

Ein anderer wichtiger Aspekt des “Zweiten großen Erwachens” ist die Verbindung von Religion mit sozialreformerischen Tendenzen. Vor allem der führende Theologe Charles Finney bestand darauf, dass spirituelle Umkehr, wenn sie echt ist, auch zu sozialen Reformen führen müsse. Wenn die undefinierte amerikanischer Religion eine Verbindung von Christentum und civil virtue im Sinne der Gründerväter sein sollte, der es um Freiheit und Gerechtigkeit ging, dann konnte das Unrecht der Sklaverei nicht länger geduldet werden. Hier wurde der Grundstein gelegt, für die Abschaffung der Sklaverei 1863 während des Bürgerkriegs. Nicht zufällig erschien in jener Zeit Uncle Tom’s Cabin von Harret Beecher Stowe, die die Tochter eines den Ideen Finneys nahestehenden presbyterianischen Pastors und Begründer der Temperenz-Bewegung war.

Öffentliche Reden von Frauen waren damals eine Provokation, weil nach biblischer Tradition die Frau in der Öffentlichkeit zum Schweigen verurteil war. Umso bewundernswerter war der Mut von Lucy Stone, bei öffentlichen Kundgebungen nicht nur für die Abschaffung der Sklaverei eintrat, sondern auch für die Rechte der Frauen kämpfte. Auch brach sie mit einer Tradition: Sie war die erste Frau, die nach der Heirat nicht den Namen ihres Mannes annahm. Was 1920 Wirklichkeit wurde, forderte Stone schon schon ein halbes Jahrhundert vorher: das Wahlrecht für Frauen. Sie wurde damit zur Begründerin der christlich orientierten Frauenbewegung.

Das “Zweiten großen Erwachen” rekrutierte nicht nur neue Mitglieder für die bestehenden Kirchen, es schuf auch viele neue. Sie alle zu nennen würde zu weit führen, aber fast alle existieren noch heute und sind der Grund für die fast unübersehbare Vielfalt amerikanischer Kirchen. Nur einige sollen beispielhaft erwähnt werden. Joseph Smith gründete die Kirche der Mormonen, die letztlich dem ganzen Staat Utah sein Gepräge gab. Ein Baptist namens William Miller, inspiriert von der religiösen Zeitwelle, gründete die “Sieben Tage Adventisten”, die nicht nur den Samstag als siebten Tag des ursprünglichen christlichen Kalenders zum Feiertag machten, sondern auch ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen hatten. So forderten sie nicht nur, dass christlich-konservative Prinzipien den Lebenswandel prägen sollen, sie sahen auch die Wichtigkeit einer Nahrung, die gut für das gesundheitliche Wohl des leiblichen Menschen ist. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet der Adventist John H. Kellog zum Gründer des weltweiten vegetarischen Frühstückcereals wurde. Man kann also sagen, Kellogs ökonomischer Erfolg entwickelte sich aus seinem religiösen Glauben. Diese nahtlose Verbindung von materieller mit spiritueller Motivation ist oft die Basis von amerikanischen Erfolgsgeschichten.

Die esoterische Bibelinterpretation des Schweden Emanuel Swedenborg, seine Theologie, die sich mit dem Verhältnis von Geist und Materie beschäftigte, seine Visionen und Träume fanden großen Widerhall im Amerika des 19. Jahrhunderts. Spiritualistische und irreale Bestrebungen ließen Sekten entstehen, deren Mitglieder vom Primat des Geistes überzeugt waren, dem sich die Materie zu unterwerfen habe. Von hier war es nur ein kleiner Schritt zum Phänomen des faith-healing: Heilung von Krankheit sollte möglich sein allein durch die Kraft des Glaubens an die wundersame göttliche Macht, die Krankheit besiegt. Mary Baker Eddy, die in ihrer Jugend unter großen Schmerzen litt, für die die Ärzte keine Linderung kannten, glaubte, dass sie schließlich durch das Lesen über Jesus und seine Wunderheilungen geheilt worden sei. Aus der Überzeugung, dass Geist die einzige Realität sei und alles andere nur Illusion entwickelte sie eine Lehre des spirituellen Heilens: Christian Science. Nicht nur gründete sie eine Kirche und ein College, sie wurde auch zur Herausgeberin einer der bedeutendsten Zeitungen Amerikas, des Christian Science Monitor, deren kulturelle Bedeutung sich nicht nur auf die USA beschränkt.

Auch dies ist ein amerikanisches Phänomen: Aus religiösen Bewegungen erwuchsen für Kultur und Bildung bedeutsame Institutionen. Dazu gehörten College-Gründungen, Zeitungen wie der Christian Science Monitor oder weit verbreitete Publikationen der 1825 gegründeten American Unitarian Association, deren undogmatische, rationalistische Behandlung theologischer Themen sie besonders attraktiv für Intellektuelle und Wissenschaftler machte. Die amerikanischen Transzendentalisten wie Emerson, Thoreau und Hawthorne und die Harvard Univerität machten sich Ideen der Unitarier zu eigen. Ralph Waldo Emerson, beeinflusst auch von den Ideen Kants und des deutschen Idealismus’, war Mitglied der Unitarischen Assoziation.

Das “Dritte große Erwachen” in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stützt sich teilweise auf die Theologie des “Zweiten großen Erwachens”. So kann sich jetzt Christian Science als Kirche etablieren. Es war eine progressive Ära, in der die führende Social Gospel-Bewegung aus der ethischen Sicht des Evangeliums scharfe Kritik übte an sozialen Misständen wie Armut, Slums, Ungleichheit, Rassismus, schwache Gewerkschaften, schlechte Schulen, Alkoholismus und ähnlichen Problemen. Ihr sozialer Aktivismus richtete sich vor allem gegen die sogenannten Robber Barons, denen es gelungen war, nach dem Bürgerkrieg großen Reichtum zu erwerben, teils aus unternehmerischer Begabung, teils mit Mitteln, die nicht den Prinzipien des Evangeliums entsprachen. Kinderarbeit wurde zwar noch nicht ganz abgeschafft, aber durch einschränkende Gesetze gemildert und der YMCA, deutsches Äquvalent zum CVJM, wurde gegründet.

Die Anfänge gewerkschaftlicher Organisationen fallen in diese Zeit der zweiten industriellen Revolution, und 1886 wurde die American Federation of Labor als erste offizielle Gewerkschaft gegründet. Fraueninitiativen führten 1880 zur Gründung der Women’s Christian Temperance Union. Dies war die Institutionalisierung eines schon aus puritanischer Zeit stammenden Kampfes gegen Alkohol, der dann später in der Prohibition der zwanziger Jahre seinen Höhepunkt fand.

Überhaupt lebten viele der Ideen des “Dritten Großen Erwachens” in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in der Civil Rights-Bewegung, wieder auf. Wie alle sozialen Veränderungen in der Vergangenheit, so ist auch die Civil Rights-Bewegung verankert in einer religiösen Gefühlswelt, geprägt von der Kirchengläubigkeit der schwarzen Amerikaner des Südens. Nicht zufällig war der führende Civil Rights-Aktivist, Martin Luther King, ein Baptisten-Pfarrer.

Der exzeptionelle Status Amerikans, sein Auserwähltsein, kommt besonders deutlich zum Ausdruck in dem Begriff Manifest Destiny und der Monroe-Doctrine. Wie so oft in der amerikanischen Geschichte zu beobachten ist, hat Manifest Destiny sowohl eine spirituelle als auch eine materielle Bedeutung.

Die Dreiheit der in der Unabhängigkeitserklärung postulierten Rechte “Leben, Freiheit und das Streben nach Glück” ist wahrscheinlich John Locke’s Second Treatise of Government (1689) entnommen. Allerdings mit einem Unterschied: Was Jefferson als “Streben nach Glück” bezeichnete, hieß bei Locke possessions, also Besitz oder Eigentum. War der materielle Aspekt dieses Rechtes bei Locke eindeutig, so wurde er durch Jeffersons Formulierung ambivalent.

Die Bedeutung des Begriffs “Glück” wurde bestimmt von seiner Interpretation. Sowohl der Einzelne als auch die Gesellschaft waren frei, Glück zu definieren entweder als ein spirituelles oder materielles Ziel, oder auch als seine Mischung von beidem. Der Amerikaner als Individuum und Amerika als Kollektiv haben im Lauf der Geschichte die ganze Palette der Bedeutungen des Begriffs Glück ausgeschöpft. Die meisten Einwanderer verließen ihr Heimatland aus Unzufriedenheit mit den materiellen oder politischen Verhältnissen, in denen sie zu leben gezwungen waren, und kamen nach Amerika mit der Hoffnung, hier ein neues, in jeder Hinsicht besseres Leben beginnen zu können. Priorität hatte dabei die materielle Basis einer Existenzgründung. Präsident Lincoln unterzeichnete 1862 den Homestead Act, ein Gesetz, das jedem Bürger erlaubte, im Westen ein Stück Land, das noch keinen Besitzer hatte, auszuwählen, ein Haus darauf zu bauen und es fünf Jahre lang zu bearbeiten, um dann als sein gesetzlicher Eigentümer zu gelten. Damit war der Westen für Millionen Menschen geöffnet.

Im besiedelten zivilisierten Osten, wo sich soziale Strukturen schon verfestigt hatten und Möglichkeiten freier Entfaltung eingeschränkt waren, gab man dem jungen strebenden Mann den Rat: “Go West!” Der noch nicht von der Zivilisation gezähmte Westen wurde zum mythischen Eldorado von Freiheit und Erfolg für den Mutigen und Tüchtigen. Hier war er allein auf sich gestellt und frei von Bevormundung durch eine Regierung und ihren die freie Entfaltung von Möglichkeiten einschränkenden Gesetze. Wesenszüge, die so charakteristisch für die amerikanische Mentalität sind, haben hier ihre Wurzeln: das Misstrauen gegenüber der Regierung und von ihr veranlassten Regierungsprogrammen; die Bewunderung des Entrepreneurs, des Unternehmers, der sich in einem ungezügelten Wettbewerb erfolgreich durchsetzt; die Absage an eine staatlich verordnete Solidarität mit den im Wettbewerb Gescheiterten und das uneingeschränkte Bekenntnis zum Kapitalismus.

Siebzehn Jahre vor Inkrafttreten des Homestead Acts taucht zum ersten Mal der Begriff Manifest Destiny in einem Zeitungsartikel des Journalisten John O’Sullivan auf. 1845 schrieb er, es sei das manifest destiny, also das offenkundige Schicksal Amerikas, den gesamten Kontinent zu erobern und zu besitzen, den die “Vorsehung” ihm anvertraut habe zur Entwicklung von Freiheit und Selbstverwaltung. Was hier noch hochfliegend klingt, wurde bald darauf die Beschreibung einer Realität, in der es einfach um Landerwerb ging. Das Streben nach Besitz und Profit erfuhr eine Art mythischer oder religiöser Rechtfertigung: es ist ja von der “Vorsehung” gewollt. Wie schon zweihundert Jahre zuvor bei John Winthrop manifestiert sich hier wieder das amerikanische Bewusstsein von seinem Auserwähltheitsstatus. Der Prototyp des Self-Made Man, des Mannes, der es allein aus eigener Kraft schafft, zu Wohlstand und damit auch Ansehen zu kommen, wird zum bewunderten Ideal des Amerikaners. Peter Matthiessen lässt in seinem großen amerikanischen Roman Shadow Country einen seiner Protagonisten sagen: “Sir, what is it that constitutes character, popularity, and power in the United States? Sir, it is property, and that only!” (S.543)

Besitz als einziges Kriterium für Charakter! Wie leicht erscheint es doch, aus dieser Perspektive den Charakter eines Menschen zu beurteilen, wenn Besitz, Eigentum, Wohlstand die einzigen Kriterien sind. Nicht zu übersehen dabei ist aber, das dies durchaus nicht nur eine materielle Bewertung ist. Verbunden nämlich mit den materiellen Aspekten sind spirituelle, moralische Tugenden, die den Charakter ausmachen: Kreativer Mut und Unternehmergeist, der zu Wohlstand führt; Selbstkontrolle, mancherlei Entsagungen und die Disziplin des Sparens, das den Wohlstand erhält und vermehrt – man erinnere sich an Benjamin Franklins Motto: “ A penny saved is a penny earned” (Ein gesparter Pfennig ist ein verdienter Pfennig); Verantwortungsgefühl und Sorge für jene, die vom Brotgewinner abhängig sind, nämlich die Familie. Bei dieser Hochschätzung von persönlichem Eigentum ist es verständlich, dass der Amerikaner staatliche Wohlfahrtsprogramme als “sozialistisch” bezeichnet, als Einmischung der Regierung durch Zwangs- maßnahmen, die ihn der freien Verfügungsgewalt über sein Geld berauben. Präsident Reagan wird immer gern zitiert: “Die Regierung löst keine Probleme – sie ist das Problem.”

Der Widerstand konservativer Amerikaner gegen die von Obama geplante Reform des Gesundheitswesens ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Wenn sie Bedürftigen helfen wollen, dann aus eigener, freier Initiative, etwa so, wie vor zweihundert Jahren ein Farmer bei einem Notfall seinem Nachbarn half. Dabei vergisst der heutige Amerikaner, dass er in einer Massengesellschaft lebt mit Problemen, die meist nicht durch private Hilfsbereitschaft zu lösen sind. Doch wird in der Tat in den USA freiwillig und gern sehr viel gespendet, wahrscheinlich mehr als in jedem anderen Land.

Mit dem individuellen Streben nach Besitz korrespondiert das kollektive Streben der USA nach Land und Machtausdehnung. Präsident James Monroe legte mit der nach ihm benannten Monroe-Doctrine 1823 die Basis für amerikanische Außenpolitik. Nicht nur der nordamerikanische Kontinent sollte für Besitz oder Machtansprüche fremder Mächte – hier war es vor allem als Warnung an Russland gemeint – unangreifbar sein, sondern auch unabhängige Länder Mittel- und Südamerikas sollten verteidigt werden gegen kolonialistische Interventionen europäischer Länder wie etwa Spanien. Amerika wurde im Sinne der Monroe Doctrine zum Schutzherrn der beiden Kontinente. Zum Schutz von amerikanischen Siedlern kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit Mexico, die 1845 zur Annektion von Texas und zum Erwerb von Kalifornien, Nevada, Utah, Arizona und Teilen von New Mexico und Colorado führten. So hat sich Amerika in seinen eigenen Augen von Anfang an berufen gefühlt, eine besondere Rolle in der Weltgeschichte zu spielen und besondere Rechte daraus ableiten zu dürfen.

Bei den vielen militärischen Auseinandersetzungen im Lauf der Geschichte haben es amerikanische Politiker immer verstanden, machtpolitischen Erwägungen moralische Begründungen zu unterlegen. Zum Schutze amerikanischer Geschäftsleute und ihren Geschäften in Spaniens Kolonie Cuba kam es 1898 zum Krieg gegen Spanien. Er endete damit, dass die USA Cuba, Porto Rico, Guam und die Philippinen erhielt. Mark Twain gehörte zu einer kleinen Minderheit, die den Krieg als Manifestation der imperialen Ambitionen Amerikas verurteilte. Der Glaube Amerikas an seine gerechten Kriege endete mit dem Vietnam-Krieg, der die Nation in seiner Bewertung spaltete und Zweifel sowohl an seiner strategischen als auch moralischen Begründung aufkommen ließ.

Für Rechtskonservative sind Zweifel am Sinn des Irak- und Afghanistan-Krieg noch heute unerlaubt und “unamerikanisch”, aber immer mehr Amerikaner fragen sich angesichts der großenVerluste an Menschen und der astronomischen Kosten, ob diese Kriege noch irgend einen Sinn haben. Diese noch nicht kollektiv eindeutig beantwortete Frage erschüttert Amerka in seinem Selbstverständnis und stürzt es in eine tiefe Verunsicherung. Die Fortsetzung der Kriege bedeutet lediglich, dass man entweder noch keine Alternative gefunden hat oder eine gefundene Alternative nicht akzeptieren kann, weil sie der Definition widerspräche, die Amerika sich im Verlauf seiner Geschichte gegeben hat. Der Stolz Amerikas, seine Selbsteinschätzung als Macht, die Vorbild für die Welt ist, weil sie für das Gute kämpft, verlangt, dass Krieg nur mit einem Sieg beendet werden kann. In der aktuellen Wertediskussion spielt der Krieg für rechtskonservative Christen keine Rolle. Selbstverständlich steht für sie Gott auf amerikanischer Seite und sie unterscheiden sich damit von Präsident Lincoln, der nicht wusste, auf wessen Seite Gott im Bürgerkrieg stand. Er meinte nur, es wäre zu hoffen, dass man selber auf der Seite Gottes stehe.

Drei Themen sind es, die die vielen Sekten konservativ-evangelikaler Christen in gemeinsamer Entrüstung vereint: Abtreibung, Homosexuellenehe und privater Waffenbesitz. Wieder sind es vor allem religiöse, sich auf Bibelstellen stützende Argumente, oft in Verbindung mit verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ( Ist ein Embryo oder Fötus schützenswertes Leben? Wie definiert man Ehe?), mit denen Abtreibung und Homosexuellenehe bekämpft werden. Privater Waffenbesitz muss dagegen legal sein, denn die sakrosante Verfassung erlaubt ihn (2. Amendment) und zur amerikanischen Tradition gehört, dass ein Mann sein und seiner Familie Leben und sein Eigentum mit der Waffe verteidigt.

Während das religiöse Leben heute noch weitgehend von fundamentalistisch agierenden Kirchen bestimmt wird, entstand in den letzten Jahren eine Bewegung progressiver Evangelikaler, die nicht besessen sind von den drei Reizthemen der Konservativ-Evangelikalen, sondern die, ähnlich wie zur Zeit des “zweiten großen Erwachens”, sich um Themen wie Armut, soziale Gerechtigkeit, Klimawandel, moralische Rechtfertigung von Krieg kümmern. Einer ihrer Führer, Jim Wallis, sieht in dieser Bewegung schon den Beginn eines “Vierten großen Erwachens” (Jim Wallis, The Great Awakening, 2008).

Der Europäer, der Gelegenheit hat, das kirchliche Leben in den USA zu beobachten, ist überrascht, wie lebendig es ist, wie zahlreich die Gottesdienste besucht sind, wieviel andere kirchlichen Aktivitäten geboten werden. Laut Umfragen identifizieren sich 82 Prozent mit dem Christentum (Gallup 2007,) 60 Prozent gehören zu einer Kirche und 43 Prozent besuchen wöchentlich einen Gottesdienst (ReligiousTolerance.org). Den Europäer, der in der Regel sein Leben lang der Kirche angehört, der schon seine Eltern angehört haben, mag es überraschen, dass etwa die Hälfte aller Amerikaner ihre Kirchenzugehörigkeit wenigstens einmal im Leben gewechselt hat (Faith in Flux: Changes in Religious Affiliation in the U.S. Pew Forum on Religion and Public Life, 2009). Während für Katholiken der Kirchenaustritt eher begründet ist durch die Unfähigkeit, weiter an die Lehre der Kirche im Hinblick auf Abtreibung und Homosexualität zu glauben, können die Gründe von Protestanten für den Wechsel zu einer anderen protestantischen Kirche sehr mannigfaltig sein: ein Wohnortwechsel, schlechte Erfahrungen mit der alten Kirche oder aber auch neu gewonnene religiöse Einsichten. Was immer die Gründe sein mögen – es sind die individuellen Gründe des Einzelnen, der von seiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch macht und sich dabei nicht beeindrucken lässt von irgend einer institutionellen Autorität oder Konvention.

Die Vielfalt christlicher Denominationen sieht der Amerikaner als einen religiösen freien Markt an, einen Supermarkt, in dem er nach eigenem Gutdünken sich eine Kirche auswählen kann. Wie in der freien Marktwirtschaft herrscht auch zwischen den Kirchen Wettbewerb, und der Pfarrer ist der erfolgreichste, der die meisten Gläubigen für seine Kirche gewinnen kann – wobei ein höheres Einkommen für ihn, der nicht von Kirchensteuer, sondern von seinen Gemeindemitgliedern bezahlt wird, auch ein Ansporn sein dürfte. Die große Zahl von Kirchen bietet nicht nur Möglichkeiten für individuelle religiöse Präferenzen, sie ist gleichzeitig auch ein Garant von religiöser Freiheit, wie schon James Madison, der vierte Präsident der USA, erkannte (Juni, 1778): “Freiheit erwächst aus der Vielfalt der Sekten, die es in Amerika gibt und die die einzige Sicherheit für religiöse Freiheit in jeglicher Gesellschaft ist.”

Ein ganz wichtiger Grundzug des amerikanischen Wesens wird in dem Motto sichtbar: Es gibt kein Problem, für das es nicht auch eine Lösung gibt. Auch für diesen amerikanischen Optimismus liegen die Wurzeln in religiösen Anschauungen der Vergangenheit, bei den Transzendentalisten, Christian Science und der New Thought-Bewegung des 19.Jahrhunderts. Phineas Parkhurst Quimby (1802-66) steht am Anfang dieser Bewegung. Er war Philosoph, Heiler und Erfinder, der die Theorie entwickelte, dass Krankheit die Folge ist von im Geist entstandenen irrigen Annahmen und dass ein sich Gottes Weisheit öffnender Geist jede Krankheit überwinden kann. Eine Organisation in der Nachfolge Quimbys ist die noch heute bestehende International New Thought Alliance, die die grundsätzliche These vertritt, dass der Mensch durch konstruktiven Gebrauch seines Geistes Gesundheit, Freiheit, Macht und Wohlstand erwerben kann.

Nicht zufällig war im 20 Jahrhundert der herausragende Vertreter des Kults des positiven Denkens, Vincent Norman Peale (1898-1993) auch wieder ein Pastor. Sein Buch The Power of Positive Thinking (1952) wurde zum mehrfach aufgelegten Bestseller. In der Kirche war er der Prediger des prosperity gospels, des Wohlstandsevangeliums, und bei säkularen Veranstaltungen war er das, was man bis heute als spiritual oder motivational speaker bezeichnet. Präsident Clinton beschrieb anlässlich Peales Tod seine Bedeutung: “Dr. Peale war ein Optimist,der glaubte, dass, was immer die Widrigkeiten und Komplexitäten des modernen Lebens uns bringen, jeder sich durchsetzen kann mit einem einfachen Glaubensbewusstsein. Und er diente uns, indem er diesen Optimismus jedem Christen und jeder anderen Person einflößte, die mit seinen Schriften oder seiner hoffnungsvollen Seele in Kontakt kam.” Ein paar Peale-Zitate: Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, mach Limonade. – Glaube, dass es möglich ist dein Problem zu lösen. Dem, der glaubt, passieren erstaunliche Dinge. Deswegen glaube, dass die Antwort kommen wird. Sie wird. – Sprich nie von Niederlage. Gebrauche Wörter wie Hoffnung, Überzeugung, Glaube, Sieg. – Aus diesen Weisheiten spricht derselbe Optimismus, mit dem amerikanische Präsidenten gern die Bürger anfeuern, weil sie wissen, dass sie damit größte Resonanz bei ihren Landsleuten finden. Den Kult des positiven Denkens zelebrieren aber nicht nur Politiker, sein Einfluss macht sich in fast allen Bereichen des Lebens und Gesellschaft bemerkbar.

Ursprünglich von religiöser Motivation ausgehend ist positives Denken in der Medizin ein Faktor geworden. Es soll Heilung beschleunigen, in der Wirtschaft steigert es die Verkaufsstrategie des nach Erfolg strebenden Managers, und die sogenannte “Positive Psychologie” von heute, vertreten etwa durch Martin Seligman, gibt der Selbsthilfe und Selbstbehandlung einen akademischen Nimbus, indem sie Therapeuten endlich die wissenschaftlichen Methoden zur Erreichung des in der Unabhängigkeitserklärung postulierten Rechts auf “Glück” in die Hand gibt. Dass es sich bei dieser im 19. Jahrhundert entstandenen Bewegung des “positiven Denkens” letztlich um eine Religion handelt, um eine Haltung, die die Lebensgestaltung religiös bestimmt, wurde von dem amerikanischen Psychologen William James schon 1902 erkannt: “Es ist ein bewusst optimistischer Lebensentwurf, der sowohl eine spekulative als auch eine praktische Seite hat … und es muss nun als eine wahrhaft religiöse Kraft angesehen werden.” (The Varieties of Religious Experience)

Es überrascht nicht, dass die modernen Tele-Mega-Kirchen die Verkündigung des prosperity gospel zu ihrem Hauptauftrag gemacht haben. Ein Pionier dieses Wohlstandsevangeliums war der kürzlich mit 91 Jahren verstorbene Oral Roberts, der in den 50-er Jahren das Fernsehen als Medium der Verkündigung entdeckt hatte. Wie Roberts versprechen heutige Teleevangelisten, dass die Spende des Gläubigen für ihre Kirche eigentlich eine Spende für Gott sei, der dann quasi als Gegenleistung den Spender belohnen werde. In dieser Vermischung von Materiellem und Spirituellem wird wieder sichtbar die puritanische Tradition der Überzeugung, dass materieller Erfolg Zeichen des Erwähltseins von Gott ist.

Ein Begriff, der ebenfalls in den Rahmen der positiven Selbstbestimmung und Persönlichkeitsentwicklung fällt, ist self-esteem – ein Schlüsselwort der amerikanischen Gesellschaft. Die einfache Übersetzung des Wortes bedeutet ”Selbstachtung.” Übersetzen kann man es aber auch mit “Selbstrespekt”, “Selbstwertgefühl”. Im amerikanischen Gebrauch gewinnt das Wort jedoch eine Überhöhung, bei der die Gefühle von Selbst- sicherheit, Selbstbewunderung und Stolz mitschwingen. Selbstrespekt als Stolz auf die eigene Person war schon ein Charakterzug der frühen Pioniere, die ihre Existenz in der Wildnis gründen mussten, allein auf sich und ihre Überlebenskraft gestellt. Hier liegen die Wurzeln für den Stolz auf individuelle Leistung, die Familie, die Gemeinschaft Gleichgesinnter und später der patriotische Stolz auf die Nation.

Selbstachtung und Stolz waren in den Anfängen der amerikanischen Geschichte durchaus begründet in objektiven Gegebenheiten, waren gerechtfertigt durch Bewährung in einer schwierigen Wirklichkeit. Der zweite Weltkrieg und sein für die USA erfolgreicher Ausgang war das große Ereignis, das den Amerikanern ihre Überlegenheit und ihren Status als die führende Weltmacht noch einmal bestätigte. Es war aber auch der letzte große Erfolg für das Land. Die danach folgenden Kriege waren nicht erfolgreich, andere Nationen holten auf und wurden zu Konkurrenten. Amerika ahnte wohl die Veränderung, war aber noch nicht bereit, sie bewusst anzuerkennen. Der Versuch Präsident Reagans, das Selbstwertgefühl Amerikas wieder zu wecken durch Beschwören der heroischen Vergangenheit und der Hoffnung auf Wiederaufleben ehemaliger Größe, konnten seine Schwächung nicht verhindern. Es ist wohl eine psychologische Tatsache, dass für den nach Erfolg Strebenden ein positives Selbstwertgefühl eine unabdingbare Voraussetzung ist. Daher spielt die Entwicklung des Selbstrespekts eine zentrale Rolle in der Pädagogik, besonders in der amerikanischen. Es besagt, dass Lernprobleme von Schülern nicht unbedingt verursacht werden durch geringe Intelligenz oder Faulheit, sondern in der Regel von Mangel an Selbstachtung. Daher ist es die primäre Aufgabe der Schule, den Schüler zur Selbstachtung zu erziehen. Grundsätzlich ist dies ein erstrebenswertes Lernziel. Doch dabei wird das große Gewicht auf Selbstachtung von dem Glauben getragen, dass Erwerb von Wissen und Fähigkeiten eine sekundäre automatische Folge von Selbstachtung ist. Auch glaubt man, dass ein junger Mensch, der früh sein Selbstwertgefühl entwickelt, später nicht kriminell wird. Der vielfach beklagte Notstand im Erziehungswesen, der darin besteht, dass vor Selbstachtung strotzende Schüler oft kaum lesen oder schreiben können, hat mit dieser Übergewichtung von Selbstachtung zu tun. Das Problematische der Überschätzung von Selbstachtung ist ihre Unabdingbarkeit: sie kann existieren, ohne Beziehung auf eine reale Basis, die sie begründet. Eine reale Basis für eine begründete Selbstachtung wäre etwa im Falle des Schülers ein nach Maßgabe seiner Fähigkeiten erfolgreiches Erwerben und Anwenden von Wissen und Kenntnissen.

In der historischen Entwicklung des amerikanischen kollektiven Bewusstsein hat diese Verabsolutierung von Selbstachtung auch einen religiösen Hintergrund. Nicht nur, dass alle Menschen vom Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind – wie in der Unabhängigkeitserklärung postuliert, es ist die Gotteskindschaft eines jeden Menschen, die nach evangelikaler Überzeugung unmittelbar erfahrbar ist und ihm seinen Eigenwert in Form von Selbstachtung bestätigt. Die auf Gotteskindschaft basierende Selbstachtung führt ihre Begründung auf einen transzendentalen, spirituellen Bereich zurück. Das Problematische im amerikanischen Denken, das sich auf der Suche nach einem neuen Selbstwertgefühl befindet ist, dass der Unterschied zwischen den beiden Begründungsebenen für Selbstachtung, nämlich die spirituelle und die materielle, ignoriert wird und es dann – wie im Falle der Schüler – zu unrealistischen Selbstwerteinschätzungen kommt. Im Rahmen der augenblicklichen Diskussion einer Reform des Gesundheitswesens hört man oft nicht nur aus Politikermund die Behauptung, Amerika habe “das beste Gesundheitswesen in der Welt”, auch Leserbriefe in Zeitungen preisen das amerikanische System als “das beste in der Welt.” Im Zusammenhang mit der Diskussion, ob Terroristen von einem Militärtribunal oder einem zivilen Gericht verurteilt werden sollen, behauptete der demokratische Senator Patrick Leahy: “Wir sind die mächtigste Nation auf dieser Erde; wir haben ein Justizsystem, um das uns die Welt beneidet. Wir werden keine Angst haben.” Natürlich beruhen diese Urteile nicht auf einem vergleichenden Studium aller Justizsysteme der Welt. Diese Superlative entsprechen einer völlig unrealistischen Selbsteinschätzung. In ihnen wird patriotisches Selbstwertgefühl nicht nur übertrieben, sondern es schlägt um in nationale Selbstüberheblichkeit, die beim Rest der Welt alles andere als pro-amerikanische Gefühle weckt.

Obama bemühte sich bei seinen Auslandsreisen Amerikas Image als eine arrogante Nation zu revidieren. Die Konservativen nehmen ihm übel, dass er sich bei der Welt für Amerika “entschuldigte”. Trotzig formuliert Mitt Romney, wahrscheinlicher Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen, den Titel seines gerade erschienenen Buchs: No Apology: The Case for America’s Greatness. Keine Entschuldigung, stattdessen an Amerikas “Größe” zu glauben – das ist die Devise zumindest jener 40 Prozent Amerikaner, die sich 2009 (Gallup-Umfrage) selber als konservativ identifizieren. Wieviele von den 36 Prozent, die sich als moderat und den 21 Prozent, die sich als liberal bezeichnen im Stillen auch den Glauben an Amerikas Größe haben, sei dahingestellt. Bei der Definition von Amerikas Größe ist das Problematische, dass sie oft nur machtpolitisch verstanden wird und somit das nationale Selbstwertgefühl auf etwas gründet, das kaum geeignet ist, Bewunderung hervorzurufen. Die naïve Überzeugung, dass Amerika einen Sonderstatus unter allen Nationen habe, weil es noch immer die stärkste Militärmacht sei, weil schlichtweg alles besser sei in Amerika als sonstwo, entspricht der psychologischen Selbstmanipulation des kollektiven Bewusstseins, die – wie schon oben am Beispiel self-esteem und positive thinking beobachtet – nicht mehr auf Fakten gegründet ist, auf einer objektiven Realität, sondern sich in einem völlig illusionären Bereich abspielt.

Immigranten in einem neuen Land stehen unter dem Zwang, sich ständig dazu überreden zu müssen, dass ihre Entscheidung, die alte Heimat zu verlassen, richtig war und dass das Leben in dem neuen Land ein besseres sei. So muss sich Amerika als eine Nation von Immigranten immer wieder seines allen anderen Nationen überlegenen Status’ versichern. Dies ist eine psychologische Notwendigkeit der ersten Generation, die aber als Tradition an die nachfolgenden weitergegeben wurde. Von Erica Jong stammt der Ausspruch: “Americans really believe in self-invention. Making yourself into a more successful, richer, more genteel, more intelligent person. It’s the American dream.” Amerika als Idee ist der Versuch von Menschen, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien, neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken, sich immer wieder neu zu erfinden. Der ursprüngliche Impetus war die Sehnsucht freier religiöser Selbstbestimmung in Verbindung mit der Sehnsucht nach einem materiell besseren Leben. Diese Doppelmotivation liegt der gesamten historischen Entwicklung Amerikas zugrunde – sich manchmal wechselseitig unterstützend, sich manchmal widersprechend.

Die Gefahren für den Self-Made Man wie auch für die “Self-Made Nation” bestehen darin, dass durch die an sich notwendige positive Selbst-Manipulation der Sinn für die Realität verloren geht. Eine Warnerin vor diesem Trend ist Barbara Ehrenreich mit ihrem 2009 erschienenen Buch Bright-Sided. How the Relentless Promotion of Positive Thinking Has Undermined America , indem sie sogar die Behauptung wagt, der Irak-Krieg und der ökonomische Zusammenbruch seien Folge der mit dem positiven Denken verbundenen Selbsttäuschung. Aus skeptischer Perspektive zeigen sich mancherlei Gefahren des Optimismus’ des positiven Denkens. Stimmt es denn, dass das Individuum wirklich immer selber kausal verantwortlich ist für sein Scheitern oder seinen Erfolg? Kann Glauben und Denken wirklich alle objektiven Gegebenheiten überwinden, wirklich immer die Realität verändern? All dies mögen berechtigte Fragen sein, aber sie werden vom typischen Amerikaner nicht gestellt, den es sind schlicht und einfach “unamerikanische” Fragen. Viele amerikanische Selbstaussagen müssen verstanden werden als Aussagen des Wunschdenkens. Aber eben dies begründet den Exzeptionalismus Amerikas, nämlich dass aus diesem Optimismus eine menschliche Universalie abgeleitet werden kann, die Amerika für die Welt zum Symbol macht: den unbedingten Willen zum Hoffen auf neue Möglichkeiten.