Die demokratische Partei der USA hat eineinhalb Jahre vor den Präsidentschaftswahlen 2020 über zwanzig Bewerber, die sich zutrauen, die Wiederwahl des Präsidenten Donald Trump im November 2020 zu verhindern. Das Problem für die Demokraten besteht darin, dass sich die Kandidaten zwar einig sind, Trump um jeden Preis abzulösen, ansonsten aber sehr unterschiedliche Programme proklamieren. Ein Konflikt besteht zwischen den Auffassungen der progressiven und den moderat-konservativen Kandidaten. Joe Biden, Obamas Vizepräsident, gilt als der Vertreter der moderaten Richtung, die auf eine Art Fortsetzung der Politik Obamas setzt , während die radikaleren Vorschläge von Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Kamala Harris kommen. Sanders, der schon 2016 einmal kandidierte, nennt sich selbst einen „demokratischen Sozialisten“ und auch die beiden anderen Kandidaten verwenden das Wort „sozialistisch“ in einem durchaus positiven Sinne. Dabei beeilen sich allerdings alle drei zu betonen, dass ihr „Sozialismus“ nicht mit Kommunismus oder dem Sozialismus undemokratisch regierter Staaten verwechselt werden dürfe. Was sie anstreben, ist eine Eindämmung des Kapitalismus durch eine Mischform aus Marktwirtschaft und sozialen Leistungen des Staats.
Die USA gelten weltweit als das Musterland des Kapitalismus. Er sei der Motor, der seit den historischen Anfängen des Landes die ökonomische Vormachtstellung in der Welt ermöglicht habe. Das behaupten seine Anhänger gegenüber den in den letzten Jahren immer häufiger auftretenden Kritiker. Diese weisen darauf hin, dass im kapitalistischen System die Reichen immer reicher und die Arme immer ärmer werden. Diese Kluft zwischen dem immensen Reichtum der Wenigen und der Armut der Vielen, die den gesellschaftlichen Zusammenhang gefährde, gelte es zu überwinden. Das aber ginge nur durch Eingriffe des Staats, die dem uneingeschränkten Kapitalismus beschränken oder ihn sogar durch ein anderes Prinzip ersetzen würde. Selbst Warren Buffet, Investment-Genie und drittreichster Mann in der Welt, der sich als überzeugter Kapitalist bekennt, ist der Meinung, dass Reiche in viel höherem Maß besteuert werden sollten.
Kapitalismus durch ein anderes System ersetzen? Das könnte dann doch nur der Sozialismus sein. Ja, sagt etwa Bernie Sanders ganz offen. Auch für die Millennials, die junge Generation der um die Jahrhundertwende Geborenen, ist Sozialismus eine durchaus überlegenswerte Alternative zum Kapitalismus, wie Umfragen ergaben. Sie scheinen offen zu sein für die Sicht Bernie Sanders und der anderen Progressiven in der Demokratischen Partei, die alle betonen, dass ihr Vorbild die sozialdemokratischen Systeme Europas sind und nichts mit dem Sozialismus Russlands oder Chinas zu tun haben.
Für patriotische, konservative, republikanische Amerikaner jedoch ist Sozialismus ein Schreckgespenst. Abgesehen davon, dass für sie Sozialismus gleich Kommunismus ist, ist die Proklamation sozialistischer Ideen absolut „unamerikanisch“ und grenzt schon an Landesverrat.
Hätten sich diese Patrioten ein bisschen intensiver mit der amerikanischen Geschichte befasst, hätten sie entdeckt, dass es in der Vergangenheit Amerikas durchaus Versuche gab, Gesellschaften auf antikapitalistischen Prinzipien zu begründen. Es waren Gruppen von Menschen, die die Vision von einer idealen Lebensform hatten, die sie in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter verwirklichen wollten. Antrieb waren mythische Vorstellungen von einem „Goldenen Zeitalter“, einem „Paradies“ oder „Himmel“ auf Erden. Wenn auch die Bestrebungen zunächst religiös motiviert waren, ergaben sich doch auch praktische Konsequenzen für das gesellschaftliche Miteinander der Gemeinschaften.
Oft waren ihre Begründer Europäer, die für ihre Vision einer idealen Gemeinschaft im alten Europa keine Chance sahen
Was war also amerikanischer als dies: Gemeinschaften gründen, um in ihnen sozialistische und religiöse Experimente zu wagen. War nicht auch Amerika für Europäer und erste Siedler von Anfang an eine Vision, eine Utopie von einer neuen Welt?
„Wenn man sich mit den Leuten über Sozialismus oder Kommunismus unterhält, so findet man sehr häufig, dass sie einem in der Sache selbst ganz recht geben und den Kommunismus für etwas sehr Schönes erklären; ‚aber‘, sagen sie dann, ‚es ist eine Unmöglichkeit, dergleichen jemals in der Wirklichkeit auszuführen‘.“ Das schrieb Friedrich Engels in Deutsches Bürgerbuch für 1845. Diesen Einwand versucht Engels zu widerlegen durch Tatsachen, die „in Deutschland noch sehr wenig bekannt sind“. Er behauptet: „Der Kommunismus, das soziale Leben und Wirken in Gemeinschaft der Güter, ist nämlich nicht nur möglich, sondern in vielen Gemeinden Amerikas … bereits wirklich ausgeführt, und das mit bestem Erfolg …“. Allerdings sind diese Gemeinden in der Regel von religiösen Sektenführern gegründet worden, die „sehr abgeschmackte und unvernünftige Ansichten hegen“ und, wie Engels zugibt, „durchaus mit dem Kommunismus nichts zu schaffen haben“. Dennoch – trotz „religiöser Flausen“ – sei entscheidend, dass sich diese Gemeinschaften im „Leben bewährt“ haben.
Hier urteilt Engels etwas voreilig, denn die meisten dieser Gemeinschaften existieren heute nicht mehr – woraus man schließen darf, dass sie sich doch nicht im „Leben bewährt“ haben.
Die Konzeption einer solchen Gemeinschaft war seit Platons Atlantis und Thomas Mores Utopia längst bekannt. Seit Mores Utopia von 1516 ist es üblich, literarische Werke, die eine imaginäre ideale Gesellschaft darstellen, als Utopie zu bezeichnen. Aber auch der Versuch, eine ideale Gesellschaft in der Realität zu begründen, wird Utopie genannt.
Nicht zufälligerweise entstanden viele utopische Gemeinschaften in Amerika, und nicht zufälligerweise basieren sie fast ausschließlich auf „religiösen Flausen“, also christlichen Ideen. Schon in Mores Republik ist aller Besitz gemeinschaftlich, gibt es die demokratische Gleichheit aller, auch von Männern und Frauen, die alle dieselbe Erziehung genießen, und es herrscht Toleranz gegenüber allen gottgläubigen Religionen, nicht aber gegenüber dem Atheismus.
Ökonomische Zwänge, politische Unfreiheit, religiöse Intoleranz in Europa trieben die ersten Siedler nach Amerika. Die neue Welt versprach unbegrenzte Freiheit und Offenheit für die Möglichkeiten, in dem weiten Land, weit entfernt von den Begrenzungen der realen und spirituellen Natur europäischer Zivilisation, eine neue soziale Ordnung zu etablieren. Obwohl die Siedlergruppen, oft nur aus einigen hundert Menschen bestehend, oft unterschiedliche Ziele verfolgten, so hatten sie doch eines gemeinsam: Sie wollten ihre utopischen Träume, die sie in Europa nicht verwirklichen konnten, in Amerika realisieren – sie wollten eine bessere Welt schaffen. Das war die Geburt des „Amerikanischen Traums“.
Wie aber definiert man die ‚bessere‘ Welt? Jene Siedler, die aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen nach Amerika kamen, definierten sie nach materiellen Kriterien: Gewinn von Geld, Macht und Reichtum. Das Streben danach gelang zunächst über Landerwerb, dann über Handel, später über Investitionen, Spekulationen und Ausbeutung. Vor allem die „Robber Barons“ im 19 Jahrhundert brachten es darin zur Meisterschaft und schufen die immensen Vermögen der reichen amerikanischen Familienclans wie z. B. der Vanderbilts, Carnegies und Rockefellers. Technologischer Fortschritt und kapitalistische Marktwirtschaft verbanden sich und wurden zur dominierenden Element in der amerikanischen Geschichte. Wenn heute Amerikaner voller Stolz vom American Way of Life sprechen, dann meinen sie damit die Errungenschaften, die ihnen das kapitalistische System gebracht hat.
Und dennoch gab es im 19. Jahrhundert mehrere Gemeinschaften, die sich gegen das kapitalistische System wendeten und keineswegs den American Way of Life praktizierten. Oft schon in Europa entwickelte Ideen sollten in diesen Gemeinschaften in Wirklichkeit umgesetzt werde, so etwa bei den Rappisten in Pennsylvania, den Hutterer in Montana, den Shaker in New Hampshire, Amana in Iowa, Oneida im Staat New York und Brook Farm bei Boston. Gemeinsam ist den Gemeinschaften, dass sie eine religiöse Ausgangslage hatten, deren feste Regeln auf biblischen Elementen beruhten und von allen Mitgliedern geteilt wurden. Leben und Arbeit sollten wie in einer idealen Familie gestaltet werden, in der die Mitglieder auf Geld und Lohn verzichten, kein Privateigentum besitzen, solidarisch im Kollektiv arbeiten und keinen Wettbewerb und kein Profitstreben kennen. In der Regel wurden diese Kommunen von starken Führungspersönlichkeiten gegründet und geleitet. Ihre Autorität gründete in ihrem religiösen Eifer und ihrem Charisma, dem sich die Mitglieder weitgehend unterwarfen.
Wer sich radikal von den meisten Kommunengründern unterschied, war der Engländer Robert Owen. Er band seine reformerischen Ideen nicht an religiöse Vorstellungen. Als Deist lehnte er die Bibel und die Lehre der Erbsünde ab. Das Verhalten von Menschen sah er im Wesentlichen bestimmt vom Einfluss der Umwelt auf seinen Charakter. Es gelte also, die Umwelt so zu gestalten, dass sie geeignet ist, den Menschen moralisch zu verbessern. Als Besitzer einer Baumwollspinnerei in Schottland leitete er eine Reihe von Reformen ein, die von weitreichender Bedeutung für die Lage der Arbeiter waren. Er beschränkte den Arbeitstag auf acht Stunden, verbot Kinderarbeit, richtete eine Mustersiedlung für seine Arbeiter ein und Läden, in denen Arbeiter zum Selbstkostenpreis einkaufen konnten, und wurde so zum Vorbereiter der späteren
Konsumvereine.
In der Hoffnung, seine Vision einer idealen Gesellschaft zu verwirklichen, gingen Owen und sein Sohn 1824 nach Amerika. In Indiana kaufte Owen von Johann Georg Rapp, einem deutschen Sektengründer, die Siedlung Harmony mit dem dazu gehörenden Land, nannte sie New Harmony und etablierte sie als erstes Modell für seine sozialistische Utopie, in der weder Privateigentum, noch Wettbewerb und soziale Ungleichheiten existierten, wo Wohlstand gleichmäßig verteilt war und wo keine Religion ausgeübt wurde. Emsig warb er für Unterstützung bei amerikanischen Intellektuellen und hielt sogar im Repräsentantenhaus eine Rede in Anwesenheit dreier früherer Präsidenten (John Adams, Thomas Jefferson, James Madison), dem amtierenden Präsidenten James Monroe und dem neugewählten Präsidenten John Quincy Adams. Owens Treffen mit führenden Intellektuellen und Politikern gelten als die ersten Diskussionen über Sozialismus in Amerika. Owen kehrte kurze Zeit später nach England zurück und überließ die Leitung der Kommune seinen beiden Söhnen. Doch schon 1827 wurde sie aufgelöst. Religiöse Mitglieder hatten schon vorher die Kommune verlassen, da es ihnen nicht gestattet war, ihre Religion zu praktizieren. Laut Owens Sohn scheiterte die Kommune, weil sie zu viele weltfremde Idealisten und Abenteurer anzog und keine heterogene Gemeinschaft zustande kam.
Wenn dies auch das Ende von Owens Utopie in Amerika war, so ist die Stadt New Harmony doch durch Owens gescheitertes Experiment bekannt geworden und hat sich zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum Indianas entwickelt. Der Naturforscher und Ethnologe Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied hat sie besucht und in seinem Amerika-Buch (Reisen in das Innere Nordamerikas 1832-183) beschrieben. Auch der Schweizer Maler Karl Bodmer und Nikolaus Lenau, der deutsche Dichter, der in Amerika enttäuscht die Nachtigall vermisste, waren in New Harmony.
Eine der größten Wirtschaftskrisen in der Geschichte der USA brach 1837 aus, als eine Spekulationsblase zerbarst und alle Banken die Konvertibilität von Papiergeld in Gold und Silber einstellten. In der folgenden Depression verfielen die Preise für Grundstücke und landwirtschaftliche Produkte, Hypotheken konnten nicht mehr bezahlt werden und viele Menschen wurden arbeitslos. Die Situation gab sozialistischen Tendenzen eine große Chance. Vor allem die Ideen von Charles Fourier, dem französischen Vertreters des utopischen Sozialismus fanden großen Anklang. Fourier wollte den Staat umstrukturieren, ihn in Phalangen einteilen und damit ein neues Ordnungsgefüge schaffen, innerhalb dessen gesellschaftliche Harmonie entsteht und die Individuen frei ihre Fähigkeiten ausleben könnten und somit glücklich würden. Im Zentrum der Phalanx steht die „Phalansteres“, wie ein „Großes Hotel“ („grand hotel“), „innerhalb dem sich das gesamte gesellschaftliche Leben abspielen solle. Für das Zusammenleben sollten feste Regeln gelten. Da Fourier den Egoismus als das Wesen des Kapitalismus sah, war er inakzeptabel. Privatbesitz sollte zwar nicht abgeschafft werden, aber Unterschiede zwischen arm und reich, Konsumenten und Produzenten würden verschwinden, weil jeder eine seinen Fähigkeiten entsprechende Arbeit erhielte.
Der amerikanische Philosoph Albert Brisbane, nachdem er zwei Jahre in Frankreich bei Fourier studiert hatte, begann nach seiner Rückkehr in die USA hier den sogenannten „Fourierism“, die Ideen des französischen Philosophen, bekannt und populär zu machen. Sein Buch The Social Destiny of Man (1840) fand großen Anklang. Horace Greely, der Herausgeber der New York Tribune, in der er sich für Reformen im Hinblick auf Pazifismus, Rechte von Arbeitern und Frauen einsetzte, unterstützte Brisbane und den Fourierismus, indem er Brisbanes Artikel veröffentlichte. Als Folge der zunehmenden Popularität des Fourierismus wurden ab 1843 die ersten Fourieristschen Gemeinden gegründet, von denen aber die meisten nach anfänglicher Begeisterung sich in den folgenden Jahren auflösten.
Brisbanes Ziel war, die bestehenden Formen der Produktion, die die Gesellschaft spalteten, zu reformieren. Erreicht werden sollte eine Harmonie von Kapitaleignern und jenen, die sie beschäftigten. Geschehen sollte dies nicht durch Abschaffung der Kapitalisten, sondern durch eine gerechtere Verteilung des von Arbeitern geschaffenen Ertrags.
Eine Fourieristische Gemeinschaft war die sogenannte Brook Farm. Sie gewann besondere Bedeutung, weil sie sozialreformerische Ideen verband mit den Ideen des Transzendentalismus. Prominente Intellektuelle und Schriftsteller gehörten ihr an, wie z.B. Ralph Waldo Emerson, Nathaniel Hawthorne und Margaret Fuller. Zunächst auf der Lehre der Unitarischen Kirche beruhend kamen im Transzendentalismus viele Strömungen zusammen. Bedeutsam war vor allem auch der Einfluss deutscher Denker. Ideen Herders, Schleiermachers, Kants, der Romantik und des deutschen Idealismus prägten den Transzendentalismus. So ist von Emerson bekannt, dass er sich intensiv mit den Schriften Goethes beschäftigt hat.
Zentrale Bedeutung für die Transzendentalisten hatte der Wert des Individuums, den sie von Religion und Politik eingeschränkt sahen. Ein Essay Emersons von 1841 trägt den Titel Self-Reliance (Selbstvertrauen). Er ist bezeichnend für das Streben der Transzendentalisten nach individueller Freiheit, die erreicht werden muss durch intuitive spirituelle Selbstfindung. Nur selbstbestimmte Individuen könnten eine wahre, harmonische Gemeinschaft bilden.
Um diese transzendentalen Ideen umzusetzen gründete George Ripley 1841 in der Nähe von Boston die Brook Farm. Intellektuelle und Arbeiter sollten durch gemeinsame Arbeit auf der Farm Gelegenheit haben, zu einer Gemeinschaft zusammen zu wachsen und der Natur näher zu kommen. Intellektuelle und Arbeiter, Männer und Frauen, durften sich die Arbeit wählen, die ihnen am meisten zusagte, und alle, ob sie physisch oder intellektuell arbeiteten, erhielten nach sozialistischen Konzepten die gleiche Bezahlung, unabhängig von der Arbeit, die sie ausführten. Die Gemeinschaft finanzierte sich durch den Verkauf landwirtschaftlicher und handwerklicher Produkte, allerdings wenig erfolgreich. Als ein Brand 1846 ein unversichertes Haus zerstörte, war die Gemeinschaft mit 17000 Dollar verschuldet und löste sich auf.
Die Gemeinschaften von New Harmony und Brook Farm basierten auf religiösen Überzeugungen, hatten keine „unvernünftige Religion… waren frei von solchen Verrücktheiten“ (Friedrich Engel). Für sie, aber auch für all die anderen, religiös orientierten Gemeinschaften gilt, dass sie in Theorie und Praxis das Gegenteil dessen bedeuten, was man den American Way of Life nennt. Keine wirtschaftlichen Exzesse, keine Kapitalakkumulation, kein egoistischer Wettbewerb. Stattdessen gerechte Verteilung der Güter, Solidarität, Gleichberechtigung, Leben in Naturnähe.
Haben die Träume der frühen Utopisten für die heutige Welt noch irgendeine Relevanz? Hat Walter Benjamin Recht, wenn er schrieb: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben“ (Fragment, 1921). Ist der Kapitalismus in den USA noch immer die unangreifbare Religion, grenzt Kritik an ihm noch immer an Blasphemie?
In den letzten Jahren ist Sozialismus in den USA wieder ein Thema der öffentlichen Diskussion geworden. Gründe dafür dürften einmal die Abscheu vieler Amerikaner vor ihrem Präsidenten Trump sein, der sich selbst für einen der erfolgreichsten Kapitalisten hält. Zum anderen aber auch die hochkarätige Wahlkampagne Bernie Sanders 2016, einem sich selbst Sozialist nennenden Kandidaten und der Wahlsieg von Alexandra Ocasio-Cortez, der sie als jüngste Abgeordnete ins Repräsentantenhaus brachte. SIe selbst bezeichnet sich als „demokratische Sozialistin“ und ist Mitglied der Partei der Demokratischen Sozialisten Amerikas. Innerhalb der Demokratischen Partei vertritt sie die extremste progressive linke Position, was nicht selten Kontroversen erregt. Sie kämpft wie Sanders für eine allgemeine staatliche Krankenversicherung, einen Mindestlohn von 15 Dollar und höhere Steuern für Unternehmen und Konzerne. Sie setzt sich ein für den Green New Deal, einem Projekt, das sich dem Klimawandel und der im Kapitalismus herrschenden wirtschaftlichen Ungleichheit widmet.
Ob ein Linksruck der Demokratischen Partei 2020 bei den Präsidentschaftswahlen der Partei nützen oder eher schaden würde, ist die kritische Frage, die die Partei beantworten muss. Haben linke Kandidaten wie Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Kamela Harris größere Chancen Trump zu besiegen als etwa der gemäßigte Kandidat Joe Biden? Eine Mehrheit der Amerikaner (56 Prozent) haben immer noch eine positive Meinung bezüglich Kapitalismus, während nur 37 Prozent den Sozialismus positiv sehen (Gallup-Umfrage vom 30. Juli bis 5. August 2018). Viel hängt davon ab, wie sie Sozialismus definieren.
Das sozialistische Ideal der Gleichheit – soll es Kontrolle der Wirtschaft, des Einkommens und des Besitzes der Bürger durch die Regierung bedeuten, etabliert es den Kommunismus mit seinem Mangel an Freiheit? Diese Gefahren sehen die Republikaner im Sozialismus. Oder ist es die Aufgabe des Staates, der Gesellschaft solche Dienstleistungen zu erbringen, die eine kapitalistische, profitorientierte Marktwirtschaft verweigert? Letzteres ist die Sicht der Demokratischen Partei.
Mehrere Umfragen in den letzten Jahren haben ergeben, dass Millennials, die 18 bis 29 Jährigen, nicht erschreckt sind von der Idee des Sozialismus. So ziehen 58 Prozent der Millennials Sozialismus dem Kapitalismus vor (Communist Victims of Communism, 2017). Konservative sehen darin das Ergebnis einer liberalen Erziehung in Schulen und Universitäten. Könnte aber der Grund nicht auch der sein, dass sich die junge Generation von den Exzessen eines wuchernden Kapitalismus angeekelt von ihm abwendet und nach Alternativen sucht? Es wäre eine Ironie der Geschichte, dass der Erzkapitalist Trump der Grund für eine Niederlage des Kapitalismus werden würde.
Sozialistische Experimente wie jene im 19. Jahrhundert werden nicht wieder aufleben. An Utopien wird heutzutage nicht mehr geglaubt. Doch macht der Kapitalismus Trumps sozialistische Alternativen durchaus attraktiv. Die Demokratische Partei steht vor der Schicksalsfrage, ob sie einen sozialistischen oder moderat liberalen Kandidaten aufstellen soll. Wer würde die größten Chancen gegen Trump haben?