Pegida ist die Spitze des Eisbergs, der aus jenen Deutschen besteht, die der Ansicht sind, Muslime gehörten nicht nach Deutschland, weil sie sich nicht integrieren wollen und sich nicht integrieren können, weil sie aufgrund ihrer anderen Kultur und Religion einfach nicht integrierbar sind. Um diese Behauptung aufstellen zu können, muss zunächst gefragt werden, was denn die Identität dieses Deutschlands ausmacht, in dem sie sich integrieren sollen. Die Frage müsste vor allem von den anti-muslimischen Pegida-Anhängern und allen, die ähnlich denken, beantwortet werden.
„Patriotische Europäer“ nennen sie sich. Patriotismus versteht man allgemein als die emotionale Verbundenheit mit dem Vaterland. Es wäre daher zu erwarten, dass sich Pegida streng genommen als eine Bewegung heimatliebender Sachsen bezeichnet. Das tun sie aber nicht. Nicht als heimatverbundene Sachsen demonstrieren sie in Dresden, nicht einmal als national fühlende Deutsche – nein, als Bürger eines Europa, das sie – da sie ja patriotische Europäer sind – als Vaterland akzeptiert haben. Soll man das glauben? Diese Aufgeschlossenheit gegenüber der Idee eines nationale Grenzen überschreitenden Vaterlandes wäre zu begrüßen, wenn da nicht Zweifel wären, ob die Bezeichnung nicht ein Etikettenschwindel ist. Jedenfalls wäre die logische Pegida-Forderung an die Muslime nicht Integration in Deutschland, sondern Integration in ganz Europa.
Weitere Begriffsverwirrung entsteht bei der Verwendung des Wortes ‚Abendland‘. Ehrlich dabei ist, dass das traditionelle, qualifizierende Adjektiv ‚christlich‘ weggefallen ist. Christliche Religiosität ist als geistiger Antrieb für Kunst und Kultur, wie sie das einmal war, in Europa abgestorben. Der Okzident, Europa, ist säkular geworden.
Für Muslime sind Nicht-Muslime nicht Anders-Gläubige, sondern ‚Ungläubige‘, selbst wenn diese gläubige Christen sind. In Deutschland allerdings treffen Muslime auf wirklich Ungläubige, d.h. auf Menschen, von denen die Mehrheit nicht mehr religiös ist. In der Diskussion der Einwanderung der Muslime wird immer abgehoben auf Konflikte, die entstehen durch soziale, ökonomische, ethnische und bildungsmäßige Unterschiede zwischen Einheimischen und Einwanderern. Diese Art der Unterschiede können bei Bereitschaft der Muslime zur Integration – und die ist bei den meisten vorhanden – sicherlich nach einer gewissen Zeit verringert oder ganz aufgehoben werden. Darüber hinaus wird aber auch gefordert, Muslime sollen sich der deutschen Kultur anpassen. Aber welcher Kultur? Der Kultur des deutschen Idealismus, Kants Philosophie , Goethes Dichtung, Beethovens Musik? Wo ist denn diese Kultur noch lebendig bei denen, die von den Einwanderern Anpassung erwarten? Es gibt sie längst nicht mehr als geistige Kraft. Sie wurde ersetzt durch Lifestyle und seinen Ausdrucksformen wie Fernsehunterhaltung, Freizeitkleidung, Fitness, Sex und Gier nach Lebensgenuss. Sollen sie sich all dem anpassen? Oswald Spengler meinte schon am Anfang des 20. Jahrhunderts den Beginn der Endphase des Abendlands zu erkennen. Er beschrieb sie als eine „Fellachen-Unkultur“ – heute würde man sagen eine Proleten-Unkultur – geprägt von „Materialismus und Irreligiosität“. Die Entwicklung scheint ihm Recht zu geben. Die Geburtenrate in Europa ist extrem niedrig. Deutschland hat mit 1,36 pro Frau die niedrigste unter allen Ländern. Man kann sie im evolutionären Prozess als Symptom schwindender Vitalität eines Volkes deuten. Die viel höhere Geburtenrate bei Muslimen dagegen zeigt sich als Zeichen einer stärkeren Lebenskraft, ein Umstand, der bei den Deutschen unbewusst Ressentiments auslösen kann.
Die Deutschen verstehen sich als eine tolerante Gesellschaft, die anders denkende Minderheiten im Allgemeinen problemlos duldet. Warum aber diese Aufforderungen zur Anpassung an die Muslime? Muslime sind Menschen, die oft schon durch ihre charakteristische Kleidung zum Ausdruck bringen, dass nicht nur Lifestyle ihr Leben bestimmt, sondern dass ihr Leben einen religiösen Sinn hat. Die Anwesenheit solcher Menschen wird von einer säkularen Gesellschaft als Provokation empfunden, die eine irritierende und verunsichernde Wirkung hat und letztlich zu aggressiven Reaktionen führen kann.
Europa hat als christliches Abendland abgewirtschaftet, und das geographische Europa hätte sowieso kein Monopol auf den Titel Abendland. Denn noch weiter westlich als Europa liegt Amerika, liegen die Vereinigten Staaten. Gegründet von europäischen Einwanderern, sind auch sie ein Teil des Abendlandes. Aber mehr noch, sie sind nicht nur Abendland, sie verdienen sogar den alten Namen ‚christliches‘ Abendland, denn drei Viertel seiner Bevölkerung bekennen sich als aktive Christen.
Zwar bezeichnen sich die Vereinigten Staaten als eine „Nation unter Gott“, doch ist es ihnen im Verlauf ihrer Geschichte immer gelungen, Religion demonstrativ zu trennen von Gesetzgebung und Politik. So ist der Islam in den USA eine Religion unter vielen, und Muslime können frei ihre religiösen Gebräuche praktizieren. Im Unterschied zu Europa verbindet in den USA die Muslime mit dem Großteil der Gesellschaft, dass Religion in ihrem Leben eine wichtige Rolle spielt. Was sie unterscheidet, ist lediglich die Art der Religion. Die prinzipielle Bindung an eine Transzendenz ist eine Gemeinsamkeit, die amerikanischen Christen und Muslimen eigen ist, ganz im Unterschied zu Europa, wo den Muslimen eine atheistische oder agnostische Haltung entgegensteht.
In den USA werden bei Volkszählungen keine Informationen über Religionszugehörigkeit gesammelt. Man kann daher nur schätzen, dass es zwischen zwei und sieben Millionen Muslime in den USA gibt. Nach der höchsten Schätzung läge der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung bei 2 Prozent, also 3 Prozent unter dem Anteil der Muslime in Deutschland. Während die deutschen Muslime überwiegend aus der Türkei stammen, kommen Pew- und Gallup-Umfragen in den USA im Jahr 2011 zu dem Ergebnis, dass U.S. Muslime 77 Länder repräsentieren, also auf Grund ihrer ethnischen und rassischen Vielfältigkeit einen „Mikrokosmos“ der gesamten muslimischen Welt darstellen. In einem Staat, dessen Bevölkerung aus allen Ländern der Welt stammt, ist der Druck zur Integration für Muslime längst nicht so groß wie in der homogeneren Gesellschaft Deutschlands. Nach den jüdisch-stämmigen Amerikanern haben die Muslime den zweithöchsten Ausbildungsstand unter allen Bevölkerungsgruppen. Vierzig Prozent haben einen College-Abschluss. (Zum Vergleich: Einen College-Abschluss haben 61 Prozent der Juden und 29 Prozent aller Amerikaner.) Nicht überraschend ist es daher, dass die gut ausgebildeten Muslime in den USA der Schicht der wohlhabenderen und erfolgreicheren Bürger angehören, was beinahe automatisch eine bessere gesellschaftliche Integration mit sich bringt. Nur zwei Prozent der amerikanischen Muslime leben auf der untersten Einkommensstufe, im Unterschied zu Europa, wo es zwanzig Prozent sind.
Welche wichtige Rolle Religion im Leben der Muslime spielt, zeigt sich darin, dass 50 Prozent von ihnen sich primär mit ihrer Religion, dem Islam, identifizieren, bevor sie sich als Amerikaner identifizieren. Aber auch für 50 Prozent der amerikanischen Christen gilt, dass sie ihre Identität primär mit ihrer Religion definieren. Dennoch ist seit dem Attentat vom 11. September 2001 die Zahl der Amerikaner, die glauben, amerikanische und muslimische Werte seien unvereinbar, gewachsen. Terrorattentate islamistischer Extremisten haben zu einer Zunahme von antiislamischen Ressentiments geführt, und es kam auch schon zu Racheakten gegen Muslime.
Ressentiments entstehen oft als Folge ideologischer Prädispositionen oder Beeinflussung durch die Medien. Dass muslimische und amerikanische Werte unvereinbar sind glauben 40 Prozent der (liberalen) Demokraten, 63 Prozent der (konservativen) Republikaner, 66 Prozent der (extrem konservativen) Tea Party-Anhänger. Die Zuschauer der extrem konservativen Fox News sind zu 60 Prozent der Überzeugung, dass Muslime die Sharia „zum Gesetz des Landes“ machen wollen. Fundamentalistische Christen haben im Lauf der amerikanischen Geschichte immer wieder versucht, die Gesetzgebung christlich zu unterwandern – immer erfolglos. Dass es den 2 Prozent Muslimen gelingen sollte, die Sharia einzuführen, ist noch unwahrscheinlicher.
Dass muslimische Integration in den USA in weit größerem Maß als in Europa gelingt, lässt sich ablesen an der Bereitschaft von über der Hälfte der Muslime, traditionelle amerikanische Gebräuche und den ganzen ‚American Way of Life‘ zu übernehmen. Erleichtert wird ihnen das durch den Umstand, dass 60 Prozent keinen Konflikt zwischen ihrem Leben als gläubige Muslime und der modernen Gesellschaft sehen. (Zum Vergleich: Derselbe Prozentsatz von Christen sieht ebenfalls keinen Konflikt zwischen ihrer Religion und der Gesellschaft.)
Die abendländische Kultur ist einst in Europa auf Basis einer ständischen Gesellschaft entstanden. Ihre Rolle wurde übernommen von dem, was sich heute in einer demokratischen Gesellschaft als post-abendländische Kultur entwickelt hat: der ‚American Way of Life‘. In einer solchen Gesellschaft findet eine Integration von Minderheiten leichter statt als in einer Gesellschaft, die auf Anpassung an nationale, überalterte Traditionen besteht.
Die statistischen Zahlen stammen aus: Pew Research Center; Council on American Islamic Relations; Gallup Center for Muslim Studies; www.pbs.org/wgbh/p…; Council on Foreign Relations (www.cfr.org/united-st…)