Konservativer Widerstand gegen den Zeitgeist in Deutschland und den USA

Aufklärung und der beginnende Industrialisierungsprozess haben im 18 Jahrhundert einen radikalen Wandel in den geistigen Grundlagen Europas und eine Neudefinition des Menschen in seinem Wesen, seinem Lebenssinn und der zu bewältigenden Lebensaufgabe eingeleitet. Die Ablösung der Theologie durch eine metaphysikfreie Moralphilosophie und der Einfluss naturwissenschaftlicher Denksysteme im 19. und 20. Jahrhundert wurden Voraussetzung einer Ethik, die den Menschen zum Schöpfer seiner selbst und seines Wertesystems machte.

Eine solche Ethik autonomer Selbstbestimmung war nach dem Bruch mit religiösen und metaphysischen Orientierungen nur noch denk-, begründ- und praktizierbar als reine Vernunftethik. Der Mensch suchte sein Heil nicht länger mehr im Jenseitigen, außerhalb von Welt und Zeit, sondern in der Welt, in der er lebte, und innerhalb der irdischen Zeitspanne, die ihm zur Verfügung stand. Durch diese neue Ethik wuchs dem Menschen nicht nur – wie er glaubte – die Würde seiner eigenen Freiheit zu, sie belastete ihn auch mit einer neuen Verantwortung: Er hatte sich nämlich zum Herren der Geschichte gemacht; er bestimmte ihren Verlauf, und er tat es nach den Kriterien seiner Ethik, die das Sittliche im Vernünftigen sucht.

Dieses emanzipatorisch-aufklärerische Projekt der Moderne wird im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts von einer kulturpessimistischen Bewegung als gescheitert betrachtet. Ein Stimmungs- und Denkwandel hat sich seitdem vollzogen und ist im Begriff, ein neues Wertsystem zu begründen. Phänomene aus verschiedenen Lebensbereichen lassen sich als Symptome dieses Wandels deuten und unter der Bezeichnung „postmodern“ subsumieren.

Die Folgen des Scheiterns der sozialpolitischen Reformexperimente der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts führten zu dem, was sich als die Zeitsignale des Neuen beschreiben lässt: der enttäuschte Rückzug aus der Sphäre des Öffentlichen, die Abwendung von der staats- und gesellschaftspolitischen Realität und die Emigration in die höchst private Welt eines radikalen Subjektivismus. Apokalyptische Katastrophenangst und das Gefühl von Ohnmacht gegenüber den anscheinend unangreifbaren Mächten der Geschichte verbinden sich zu einer Stimmungslage, in der nicht länger mehr auf den Intellekt zur rationalen Erhellung, nicht länger mehr auf die politische Aktion zur praktischen Überwindung von Problemen gesetzt wird, sondern in der die Flucht ins Affektive, ins Irrationale unausweichlich erscheint.

Eine neue Haltung manifestiert sich: der Verzicht auf die rationale, die intellektuell überzeugende Erklärung der Welt. Widersprüche und Konflikte werden nicht länger mehr als Herausforderung zu ihrer Überwindung erlebt, sondern als Bestätigung und Ausdruck einer prinzipiellen Inkohärenz der Phänomene, die sich in keinen der von der menschlichen Vernunft nach Gesetzen der Logik konstruierten Zusammenhänge mehr bringen lassen, mit denen man seit über zwei Jahrhunderten abendländischen Denkens die Welt in den Griff zu bekommen suchte. Es scheint, als habe die Vernunft lange genug ihre Chance gehabt und sie nicht genutzt. Die Versprechen von Aufklärung und Emanzipation, Wissenschaft und Technologie sind unerfüllt geblieben. Weder ist die Welt verbessert, noch das menschliche Glück gemehrt worden. Die Eskalation des Fortschritts wird heute nicht mehr gefeiert, sondern als Drohung und Verhängnis empfunden. Es scheint erwiesen, dass der Mensch doch nicht der Herr einer sich kontinuierlich entwickelnde Geschichte ist, sondern das Opfer einer Geschichte, die sich anscheinend sprunghaft und in willkürlichen Abläufen vollzieht, die er meist nicht begreifen und erst recht nicht beeinflussen kann.

Folgen dieser sich auf alle Lebensbereiche erstreckenden Absage an Kontinuität und Konsistenz sind ein fragmentiertes Weltbild und ein ethischer und ästhetischer Relativismus, der sich in einem Kult von Standpunktlosigkeit und demonstrativer Unvernunft dokumentiert.

Die Abdankung des Menschen als Herr seines Geschicks, die Erkenntnis seiner Ohnmacht gegenüber geschichtlichen Entwicklungen, deren Ursachen, Zusammenhänge und Ziele er nicht länger mehr zu deuten wagt, zwingen ihn zu Entscheidungen. Die populärste Entscheidung scheint gefallen zu sein zugunsten des konsequenten Verzichts auf die Deutung der Welt als eines ganzheitlichen Sinnsystems, das auf Grund seiner logischen Konsistenz dem sich bemühenden menschlichen Intellekt prinzipiell zugänglich ist. So ist die Absage an den Marxismus – in diesem Licht gesehen – nicht nur die Ablehnung einer bestimmten und in wichtigen Elementen als fehlerhaft erkannten Philosophie, sondern es ist die Absage an den letzten großen Versuch einer intellektuell befriedigenden ganzheitlichen Weltdeutung. Der philosophische Glaube, dass alle Dinge sich letztlich zur großen Synthese vereinen lassen, wurde verdrängt durch geschichtliche Phänomene, die in ihrem Wesen als so disparat erlebt werden, dass sie nicht mehr im Rahmen eines integrativen Bedeutungssystems gesehen werden können. Die Konsequenz ist sichtbar im Lebensstil einer Gesellschaft, die sich im Chaos der allgemeinen Wertekonfusion eingerichtet hat, Unvereinbarkeiten hinnimmt und Widersprüchlichkeiten durchaus als Lustgewinn erleben kann.

Aber anscheinend kann eine Gesellschaft auf Dauer nicht ohne moralisches Fundament leben. Die gemeinschaftliche Ordnung droht zusammenzubrechen. Immer lauter ertönt daher der Ruf nach einem das menschliche Zusammenleben stabilisierenden System, nach neuen Werten. Doch was sind „Werte“, und woher sollen sie kommen? Viele Philosophen haben in der Vergangenheit den Versuch unternommen, Antworten auf diese Fragen zu finden. An erster Stelle ist Nietzsche zu nennen, dessen Ethik die starke Persönlichkeit fordert, die souverän und in absoluter Freiheit sich ihre Werte selbst erschafft. Allerdings sind es ihre eigenen Werte. Was diesen Werten ihre Allgemeingültigkeit verleihen soll, bleibt fraglich. Dagegen wird die zwischenmenschliche Geltung von Werten von dem amerikanischen Philosophen des Pragmatismus, John Dewey, thematisiert, der die soziale Kommunikation und den daraus resultierenden wechselseitigen Austausch als Ausgangsbasis für Wertbildung zu erkennen glaubt. Ein anderer amerikanischer Philosoph und Psychologe, William James, führt die Entstehung von Werten auf religiöse Formen der Erfahrung zurück, in denen der Mensch über die Verfolgung seiner persönlichen Interessen hinauswächst in eine überpersönliche Transzendenz. Das Problem all dieser Versuche besteht in der Schwierigkeit, das Eigeninteresse zu vereinbaren mit Fremdverantwortung und die Allgemeingültigkeit der Werte zu begründen. Wenn dies gelänge, könnte auf dieser Basis ein gesellschaftliches System errichtet werden, in dem die soziale Pflicht zur Solidarität von allen akzeptiert würde. Voraussetzung dazu wäre allerdings eine Gesellschaft, die über einen Fundus gemeinsamer Überzeugungen verfügt, und die scheint es nicht mehr zu geben.

In dieser Situation entstehen Werte als Empfindungen, die aus biographischen, subjektiven Erfahrungen resultieren und daher nur zur individuellen Handlungsorientierung dienen können, nicht aber den Anspruch auf allgemeingültige Verbindlichkeit erheben dürfen. Die vom Individuum subjektiv entwickelten Werte sind geprägt von Eigeninteresse. Das Werteproblem besteht in der Schwierigkeit, den Übergang von Eigeninteresse in nicht-egoistische Fremdverantwortung herzustellen, eine Brücke zu schlagen zur zwischenmenschlichen Gültigkeit, zu einer Wertesolidarität, die von der Gesellschaft als soziale Pflicht akzeptiert wird.

Je mehr die ethischen Defizite, das Wertechaos oder sogar Wertevakuum das moralische Fundament der Gesellschaft unterhöhlen, desto lauter ertönen die Klagerufe über Orientierungslosigkeit, den Verlust der alten und die Abwesenheit neuer Leitbilder. Entstanden ist in dieser Situation ein neues Bewusstsein, das sich in der aktuellen Sehnsucht nach Spiritualität und Transzendenz ankündigt.

Innerhalb der profanen Erlebniswelt der säkularen Gesellschaft hat sich eine Gegenbewegung angekündigt, in der Kräfte des Numinosen zu wirken beginnen. Zeitsignal ist der Konservatismus, der in Deutschland im letzten Jahrzehnt, in Amerika schon seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wieder auferstanden ist. Vor allem die konservative Revolution in Amerika lässt erkennen, dass der Konservatismus die Gegenbewegung zur Aufklärung ist. Sein Grund-Impetus ist die Ablehnung der Moderne und die von ihr propagierte Autonomie des Menschen.

Am amerikanischen Konservatismus lassen sich seine drei wesentlichen Komponenten deutlicher erkennen als am deutschen Konservatismus. Politisch manifestieren sie sich im Kräftespiel zwischen der konservativen Partei der Republikaner und der liberaleren demokratischen Partei, sozial in gesellschaftlichen Konflikten, (z.B. im Hinblick auf die Behandlung von Minderheiten, Arbeitslosigkeit, Krankenversicherung, Immigration, usw.) und religiös bei Themen wie Abtreibung und Homosexualität.

Die Regierung löst keine Probleme – sie ist das Problem. Dieser Satz Reagans, der die konservative Revolution in den USA eingeleitet hatte, wurde zum Glaubensbekenntnis der Republikaner. Es folgt daraus die Forderung, die Regierung so klein und schwach wie möglich zu halten, ihr höchstens die Landesverteidigung nach außen und Polizeischutz im Innern zuzubilligen. Ansonsten habe sie auf keinen Fall in die Wirtschaft einzugreifen, weil damit deren höchstes Gut, die Freiheit des Marktes, zerstört werde. Diese Auffassung von Regierung sind von sozialer Relevanz: Bekämpft werden Maßnahmen wie z.B. die Durchsetzung von Mindestlohn, Arbeitslosigkeitsreduzierung, Linderung von Armut durch stattliche finanzielle Unterstützung, Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung usw. Begründet wird die Ablehnung von Hilfsmaßnahmen damit, dass sie die Verantwortung des Individuums für seine Not negieren und die Initiative, sich aus eigener Kraft von ihr zu befreien, lähmt oder ganz zerstört.

Neben dem hohen Wert des freien Marktes, ohne den der Kapitalismus, wie sie meinen, Amerika nicht zur führenden Weltmacht aufgestiegen sei, ist für die Konservativen ein anderer Wert von größter Bedeutung: die Freiheit des Individuums. Sie ist von der Verfassung garantiert, gibt dem Bürger das u.a. Recht auf freie Meinungsäußerung, freie Religionsausübung, Waffen zu besitzen usw. Die Einführung einer allgemeinen gesetzlichen Krankenversicherung, wie sie zur Zeit vom liberalen Präsidenten Obama eingeführt wird, wird von den Republikanern als Bevormundung des freien Bürgers durch die Regierung mit allen Mitteln bekämpft. Das freie Individuum, das allein auf sich gestellt und aus eigener Kraft sein Schicksal meistert, ist seit Pionierzeiten die Ikone des amerikanischen Charakters.

All diese konservativen Ströme wären nicht möglich ohne einen religiösen Untergrund. Schon das Dokument, das die Entstehung der Nation begründet, die Unabhängigkeitserklärung von 1776, bezeichnet das Naturrecht und den Gott dieser Natur (Laws of Nature and Nature`God) als die Autorität, die dem Menschen all die Rechte verleiht, die die Erklärung fordert: das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Es sind diese vom Schöpfer (Creator) verliehenen Rechte, die in der Verfassung von 1787 gesetzlich verankert sind. Die Verfassung ist seitdem die Grundlage und moralische Richtschnur für alle politischen und juristischen Entscheidungen. Der Konservative akzeptiert nicht das Argument, dass bestimmte Sachverhalte von vor über zwei Jahrhunderten in heutiger Zeit eine andere Bewertung als damals erfahren sollten. Für ihn besitzt die Verfassung den Status des Überzeitlichen. Sie ist nicht einem bestimmten Zeitgeist unterworfen, sondern sie gilt – buchstabengetreu – für immer und überall. So wird z.B. das Recht auf Waffenbesitz privater Bürger im 21. Jahrhundert begründet.

Den gleichen Rang nimmt für amerikanische Christen, insbesondere für die Anhänger fundamentalistischer-evangelikaler Kirchen, die Bibel ein. Als das Wort Gottes ist sie diesen konservativen Christen der zeitenthobene Kompass, von dem her alle ethischen Entscheidungen getroffen werden müssen. Sie fordern, dass die Bibel als das Wort Gottes wörtlich verstanden werden muss. Moderne, zeitgemäße, relativierende Interpretationen biblischer Aussagen werden als säkulare Verirrungen oder gar raffinierte Tricks denunziert. Das moralische Chaos und den allgemeinen Werteverlust führen sie darauf zurück, dass die Gebote der Bibel in der modernen, säkularen Gesellschaft nicht mehr befolgt werden. Eine Gesetzgebung, die Abtreibung und homosexuelle Ehen legitimieren soll, wird strikt abgelehnt. Sie sehen darin Maßnahmen, die dazu beitragen, dass die traditionelle Ehe und Familie zerrüttet werden, und bestehen darauf, dass der verfassungsgemäße Schutz des Lebens auch für das ungeborene Leben gilt. Dass der Konservatismus dieser amerikanischen Prägung im Grunde die Kampfansage gegen Moderne und Wissenschaft ist, tritt besonders offen zutage in der Weigerung, die Darwin‘sche Theorie der Evolution anzuerkennen, weil sie der wörtlichen Auslegung der Bibel widerspricht.

Das Leben in der modernen Welt, in der Wissenschaft überkommene Glaubensinhalte skeptisch hinterfragt, verunsichert und verängstigt den Konservativen, vertreibt ihn aus der Geborgenheit lieb gewordener Ideale und macht ihn in gewisser Weise heimatlos. Es entsteht die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, nach ihren Glaubensgewissheiten, nach ihren Werten – und man sucht sie in einer nostalgisch verklärten Vergangenheit. „Give me that old time religion – it was good for our mothers, it was good for our fathers, and it`s good enough for me.“ Dieses populäre Lied, von Jonny Cash und anderen vor begeisterten Menschenmengen gesungen, trifft musikalisch den Nerv dieser Haltung.

Zwischen deutschem und amerikanischem Konservatismus gibt es sowohl Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Der deutsche Konservatismus stand der Regierung nie so antagonistisch gegenüber wie der amerikanische. Wohl als Nachwirkung monarchischer Tradition neigt er dazu Autorität und hierarchische Ordnung zu respektieren. Der amerikanische Konservatismus dagegen wehrt sich gegen jegliche Beschränkung seiner Ideale – Freiheit und Gleichheit des Individuums – und zwar nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der gesellschaftlichen Anerkennung.

Wie im amerikanischen so auch im deutschen Konservatismus steht Politik mit religiöser Orientierung im Zusammenhang. Dennoch hat in Deutschland Religion längst nicht diese überragende Wirkung auf die von CDU und CSU betriebene Politik, wie dies in Amerika der Fall ist. Der Konservatismus dieser beiden Parteien ist in der Sicht ihrer erzkonservativen Kritiker längst korrumpiert und verwässert durch sozialdemokratische Ideen. Der Hauptunterschied zwischen Amerika und Deutschland: In Amerika stehen sich die Akteure der geistig-politischen Positionen nicht nur antagonistisch, sondern oft aggressiv feindlich gegenüber – man spricht vom sogenannten „Kulturkrieg“ (cultural war). In Deutschland gibt es zwar eine rechte und eine linke Volkspartei, aber beide haben alles getan haben, um in der politischen Mitte anzukommen. Die Kirchen als letzte Bastionen des Christentums verlieren immer mehr Gläubige. Vor allem der katholischen Kirche wird das Festhalten an überkommenen Vorstellungen vorgeworfen. Es gibt Bemühungen, sie moderner zu machen, sie der Zeit anzupassen und jahrhundertealte Tabus abzubauen. Fraglich ist, ob eine zeitangepasste Liberalisierung die Kirche stärken wird, oder ob eine „Humanisierung“ sie auf Dauer eher schwächen und unglaubwürdig machen wird, weil man sie als opportunistisch-utilitaristische Veränderung empfindet. Hier wird ein Dilemma sichtbar, dass der deutsche konservative Katholik mit dem amerikanischen evangelikalen Christen gemeinsam hat. Beide sind nicht frei in ihren ethischen und politischen Aussagen, denn beide sind durch ihren Glauben gebunden an die Bibel, in der sie das verbindliche Wort Gottes sehen. Der gläubige Christ ist ein Mensch, der von der Existenz ewiger Wahrheiten überzeugt ist. Nicht ist er „ein Krämer des angeblich Bewährten“ (Botho Strauß, Plurimi), nicht will er konservieren, was gestern war, sondern erhalten, was immer ist. Den wechselnden Moden des Zeitgeistes kann er so widerstehen.

Kirchlich und politisch nicht gebundene Bürger fühlen sich verunsichert durch die Tatsache, dass immer mehr Einwanderer anderer Religionen und Kulturen eine multikulturelle Gesellschaft schaffen. So werden alle Fronten verwischt: Konservative und progressive, religiöse und säkulare, soziale und marktwirtschaftliche Ideen und Tendenzen verflechten sich zu einem multikulturellen Netz, in dem der Bürger sich gefangen fühlt. Wo gibt es einen Ausweg aus diesem Chaos von sich widersprechenden Werten? Politiker aller Schattierungen weisen auf die Menschenrechte hin, die als universale Prinzipien gelten sollten. Sie tun es aber nicht, wie die allgemeine Weltlage überdeutlich zeigt. Es bleiben dann noch die sogenannten Sekundärtugenden, auf die sich viele Menschen in Ermangelung von Primärtugenden zurückziehen und denen sie sich verpflichtet fühlen. Aber diese erhalten ihren ethischen Wert nicht durch sich selber, sondern nur durch das Ziel, zu dem sie praktiziert werden. Die Frage jedoch bleibt: Wer oder was gibt diesem Ziel seine ethische Bestimmung?

In Amerika wird der Widerstand gegen Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe in erster Linie religiös begründet. Leben, auch das ungeborene, sei von Gott gegeben und vom Menschen unantastbar. Desgleichen sei die Ehe von Mann und Frau ein von Gott gestiftetes Sakrament. Ehen gleichgeschlechtlicher Partner blieben kinderlos und würden daher nicht zur Gründung einer Familie führen. Familie aber sei die Keimzelle der Gesellschaft. Eine Gesellschaft mit einer Großzahl zerrütteter Ehen und Familien sei vom Zusammenbruch bedroht. Die hohe Wertschätzung der Familie existiert allerdings nicht nur unter Kirchenmitgliedern, sondern wird von der gesamten Gesellschaft geteilt. In einem Land von der Größe der USA, wo Familienmitglieder oft weit voneinander entfernt wohnen, ist es eindrucksvoll zu sehen, wie der Zusammenhalt gepflegt wird indem besonders an Festtagen wie Thanksgiving die Kinder und Enkel von weither zu den Eltern bzw. Großeltern ins Elternhaus zurückkehren, um mit der ganzen Familie vereint zu sein. Sicherlich wird der Wert des Familiezusammenhalts auch in Deutschland geschätzt, aber nicht so demonstrativ wie in Amerika, was wohl daran liegt, dass Familien in Deutschland nicht durch große Entfernungen getrennt sind.

Je verlorener sich das Individuum in der modernen, vom Wettbewerb aller gegen alle bestimmten, Massengesellschaft vorkommt, desto größer wird seine Sehnsucht nach menschlicher Wärme und Geborgenheit. Die traditionelle Ehe und Familie sind Institutionen, die Geborgenheit schenken. In den letzten Jahrzehnten wurde in Deutschland ein anderes Kraftzentrum konservativer Identität wiederentdeckt: die Heimat. Heimat als ein Ort, wo der Mensch nicht ein Fremder ist, wo er sich „heimisch“ fühlt, wo er Vertrautheit mit Menschen und Dingen erfährt und eine Verlässlichkeit erlebt, die er in der „Fremde“ nicht findet. „Heimat“, der Film-Chronik von Edgar Reitz, ist beredtes Symptom des Wiederauflebens der Idee Heimat. Rituale des Heimatlichen sind populär geworden: Die Beliebtheit von Heimat-Fernsehserien, Heimatmuseen, Aufwertung des Regionalen und seiner Dialekte, Popmusik usw. mögen für manche auch ein Gegengewicht zu einer eingebildeten Überfremdung durch Einwanderer aus fremden Kulturen sein. Jedenfalls sind sie Phänomene, die belegen, dass die Menschen nach etwas suchen, das ihnen inmitten einer internationalen, globalen, sich ständig verändernden Welt das Gefühl von Geborgenheit vermitteln soll.

Heimat ist ein spezifisch deutsches Wort, ein deutscher Begriff, kaum in andere Sprachen übersetzbar. Was dem Deutschen Heimat ist, ist dem Amerikaner sein Land. Er liebt es leidenschaftlich, ohne Vorbehalte: Right or wrong – my country! Mobilität, nie richtig sesshaft werden gehört zur amerikanischen Lebensart. Ortsspezifische Heimatgefühle kommen da kaum auf. Gleichgültig von welchem Land der Erde er eingewandert ist – Heimat ist für ihn das ganze Amerika, „from sea to shining sea“, wo „die Flagge in Triumph weht über dem Land der Freien und der Heimat der Tapferen“, wie es in der Nationalhymne heißt. In seinem Patriotismus lebt die Überzeugung, dass, was immer die Welt an Veränderungen bringt, Amerika bleibt, was es ist: „the greatest country in the world.“ Die amerikanische Verfassung von 1787 ist seit über 200 Jahren immer noch in Kraft und ist damit die älteste der Welt. Wie allen konservativen Christen die Bibel, so verkörpert allen konservativen Amerikanern – und das sind in dieser Hinsicht fast alle – die Verfassung das Bleibende im Strom der Zeit.

Das Bleibende, das in den Ritualen der Tradition Überlieferte, der Widerstand gegen Relativität und Moderne ist Inhalt der konservativen Identifikationswelt. Aber nicht alle Menschen haben in dieser Welt einen Platz. Viele menschliche Lebensweisen, vor allem auch von Randgruppen, bleiben ausgeschlossen oder werden sogar diskriminiert, viele Phänomene des modernen Lebens werden ignoriert. Aus der konservativen Identifikationswelt könnte erst dann ein universales ethisches Wertsystem entstehen, wenn sie sich öffnete für das, was sie bislang von sich fern hielt, wenn sie ihre Inhalte revidierte und relativierte. Aber wäre sie dann noch konservativ?

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