Der Dichter Nikolaus Lenau, enttäuscht von der politischen Restauration in Europa, reiste 1832 in die USA. Und enttäuscht kehrte er zurück: In Amerika gibt es „überhaupt keine wahren Singvögel“ und „die Nachtigall“ wüsste schon, warum „sie bei diesen Wichten nicht einkehrt.“ Das „poetische“ Deutschland distanzierte sich schon damals vom prosaisch-materialistischen Amerika und reflektiert damit eines der gängigen antiamerikanischen Stereotypen über die Vereinigten Staaten.
Ein anderes Stereotyp wird von Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede anlässlich der Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941 thematisiert: „Und ebenso hat nicht Amerika Europa entdeckt, sondern umgekehrt. Und all das, was Amerika nicht aus Europa bezogen hat, mag wohl einer verjudeten Mischrasse als bewunderungswürdig erscheinen. Europa aber sieht darin nur ein Zeichen des Verfalls in Kunst und kultureller Lebenshaltung, das Erbe jüdischen oder vernegerten Bluteinschlags.“ Hier ist es der unter deutschen Bildungsbürgern weitverbreitete Glaube an die Überlegenheit der europäischen Kultur, der europäisches Selbstbewusstsein steigern soll.
Ein Stereotyp zur Diffamierung der USA in unseren Tagen liefert Lars Mährholz, einer der Gründer der sogenannten nationalistischen „Mahnwachen“. In einem Interview mit ‚Voice of Russia‘ am 7. April 2014 sagt er: „Woran liegen alle Kriege in der Geschichte in den letzten hundert Jahren? Und was ist die Ursache von allem? Und wenn man das alles ‘n bisschen auseinander klabüsert und guckt genau hin, dann erkennt man im Endeffekt, dass die amerikanische Federal Reserve, die amerikanische Notenbank, das ist eine Privatbank, dass sie seit über hundert Jahren die Fäden auf diesem Planeten zieht.“ So einfach lässt sich Volksverdummung erzielen. Also nicht Hitler und Nazi-Deutschland sind schuld am 2. Weltkrieg, nein, die amerikanische Federal Reserve hat ihn und all die anderen Kriege verursacht.
Umfragen zeigen, dass das Amerikabild außer in der Türkei nirgendwo schlechter ist als in Deutschland. Drei Ereignisse der letzten Zeit haben dem Antiamerikanismus neuen Auftrieb gegeben: Ukraine-Konflikt, TTIP und Flüchtlingskrise.
Die Annexion der Krim durch Putin und sein aggressives Vorgehen in der Ukraine stießen in Deutschland auf erstaunlich milde Kritik. Verletzung des Völkerrechts? Dessen haben sich die Amerikaner doch auch schon schuldig gemacht. Und die wollen der Ukraine auch noch Waffen liefern? Es fällt vielen Deutschen schwer zu verstehen, dass man, wenn man einem angegriffenen Volk schon nicht direkt zu Hilfe kommt, ihm wenigstens Waffen zu Selbstverteidigung liefert. Auch der Ukraine-Konflikt sei nicht wirklich von dem Autokraten Putin zu verantworten. CIA-Verschwörungsgerüchte genügen, um die Amerikaner als die eigentlichen Kriegstreiber zu identifizieren
Seit Beginn der russischen Aggression häufen sich in Deutschland die Stimmen, die Verständnis dafür wecken wollen, dass Putin sich vom Westen, sprich von NATO und letztlich den USA, bedroht fühlt. Dieser Gedanke korrespondiert in Deutschland mit dem seit Jahrzehnten unterschwelligen Gefühl, von den USA dominiert zu werden. Jakob Augstein drückt dies in einem Vergleich aus: „Zwischen den Amerikanern und uns besteht ein Herr-Hund-Verhältnis. Auch ein Dackel entdeckt irgendwann seinen Stolz.“ (Spiegel Kolumne, 10.07.14, „Der deutsche Dackel“) Da ist das verräterische Wort: „Stolz.“ Das wiedervereinigte, reich und mächtig gewordene Deutschland fühlt sich von den USA in seinem Stolz verletzt. Die USA als Schutzmacht waren früher einmal nötig, werden aber jetzt nicht mehr gebraucht. Der Dackel hat sich emanzipiert. Und gegen russische Aggression, die es ja eigentlich nicht wirklich gibt, kann er sich schon aus eigener Kraft schützen. Träume weiter, kleiner Dackel!
Seit fast 70 Jahren lebt Deutschland in Wohlstand unter dem amerikanischen Schutzschirm. Die Westbindung, die Deutschland Demokratie und Freiheit gebracht hat, etwas, was andere Völker sich blutig erkämpfen mussten, wird zur Disposition gestellt. 49 Prozent der Deutschen wünschen sich eine „mittlere“ Position zwischen dem Westen und Russland. Ein pubertärer Komplex wird sichtbar: Die Deutschen begehren auf gegen ihre Lehrmeister in Demokratie. Sie halten sich nicht nur für klüger, sondern auch für demokratischer und moralischer als die Amerikaner. Viele Deutsche sind voller Verständnis für Putins national-imperialistische Ideologie und deuten sie verständnisvoll als Reaktion auf die Bereitschaft mancher Länder, sich Putins Einflusssphäre zu entziehen und sich dem Westen anzuschließen. Man will nicht wahrhaben, dass für andere Länder westliche Freiheiten offensichtlich attraktiver sind als das, was Putins autokratisches System zu bieten hat. Doch anstatt den Amerikanern dafür dankbar zu sein, gibt man ihnen dafür die Schuld.
Der Abschluss des Freihandelsabkommens, TTIP, wird als Symbol für den Sieg des Neoliberalismus gewertet. Und den verbinden viele mit den USA. Globalisierungskritik wird zu antiamerikanischer Kritik, weil die USA meist als die treibende Kraft hinter der Globalisierung gesehen werden. Deutsche Heuchelei besteht darin, dass man vergisst, dass gerade Deutschland von der Globalisierung profitiert wie kaum ein anderes Land. Wie sonst wäre es Export-Vizeweltmeister geworden? „Die Vereinigten Staaten müssen hier die klassische Sündenbockfunktion übernehmen. Europa wird als Zivilmacht gesehen. Das ist ein Vorteil, denn so kann man als Europäer den USA die Drecksarbeit übertragen und es sich bequem machen“ (Politologe Frank Decker).
Der Protest richtet sich auch gegen die angeblich niedrigen oder nicht vorhandenen Schutzstandards der USA. Ist es Unwissenheit oder wieder antiamerikanisches Ressentiment, wenn man nicht sieht, dass die USA in vielen Bereichen höhere Schutzstandards haben als die EU? Das gilt sowohl für Abgasnormen von Fahrzeugen als auch für Arbeitsschutz und Lebensmittel. Ein Amerikaner würde sich schütteln bei dem Gedanken, dass er statt Chlorhühnchen Salmonellenhühnchen essen müsste. Viel schärfer als in Deutschland sind die Regulierungen bezüglich pharmazeutischer Produkte, Kinderspielzeug und des Finanzmarkts, wie selbst Deutschland oberster Verbraucherschützer, Klaus Müller, zugibt. Deutscher Überheblichkeit wurde eine große Schlappe zugefügt, als nicht in Deutschland, sondern in den USA der sensationelle Diesel-Abgas-Betrug von VW, einem deutschen Konzern, aufgedeckt wurde. Zwei Dinge wurden dabei sichtbar: Erstens, auch ein deutscher Konzern kann ein Betrüger sein, und zweitens, deutsche Verbraucherschutzkontrollen sind ineffizient. Ein überzeugter Anhänger des Antiamerikanismus nimmt den Amerikanern noch übel, dass sie den VW-Skandal aufgedeckt haben. Wahrscheinlich stimmt, was die Frankfurter Allgemeine berichtet: „Ranghohe Grünen-Politiker erläuterten hinter vorgehaltener Hand, hinter der aufkommenden Empörung stecke im Kern Antiamerikanismus“ (FAZ-Online-Wirtschaftsteil, 25.10.15). Wenn selbst Grüne dieser Ansicht sind, muss es wohl stimmen.
National-konservative AfD-Politiker und Sarah Wagenknecht von der Linkspartei sind sich einig, dass die USA die „Hauptverursacher der Flüchtlingstragödie“ seien. Also nicht Assad, nicht der Islamische Staat (ISIS), nicht Putins Luftangriffe gegen die Rebellen sind die Ursache für die Flüchtlingsströme, nein, die Amerikaner sind es. Da es inzwischen in Deutschland in weiten Kreisen als politisch erfahren gilt, die Amerikaner als Drahtzieher für alle Probleme und Konflikte in der Welt zu sehen, teilen viele diese Ansicht. Im Hinblick auf die Flüchtlingskrise ist eine einseitige Schuldzuweisung an die USA völlig deplatziert. Nach dem Irakkrieg gab es die überraschenden, weil unvorhergesehenen arabischen Aufstände, die nicht von den USA initiiert waren. Inzwischen findet ein Stellvertreterkrieg zwischen Iran, Saudi Arabien und Syrien statt, Rebellen bekämpfen innerhalb des Landes das System Assad, und die gesamte Region wird erfasst von der Schreckensherrschaft des Islamischen Staates. All diese Faktoren, und ganz besonders der syrische Bürgerkrieg, sind Auslöser für die gigantische Fluchtbewegung und es hieße, sie zu ignorieren, will man den USA die alleinige Schuld an der Flüchtlingskrise geben. Putins Intervention in Syrien treibt noch mehr Menschen in die Flucht. Er kann jedoch unbesorgt sein, sie fliehen nicht nach Russland – warum eigentlich nicht? Und wenn sie es täten, fände er sicher Wege, sie nicht über die Grenze zu lassen.
Was eigentlich ist Antiamerikanismus? Er ist nicht gleichzusetzen mit Kritik an amerikanischer Politik oder Kritik an bestimmten Aspekten der amerikanischen Gesellschaft. Um klarzustellen, wer bestimmte Aspekte der USA kritisiert wie z.B. Irak-Krieg, Todesstrafe, Tragen von Schusswaffen, rassische oder sexuelle Diskriminierung, ist deswegen noch nicht antiamerikanisch. Antiamerikanismus ist vielmehr die grundsätzliche Bereitschaft, alles Amerikanische grundsätzlich und von vornherein abzulehnen, zu diffamieren oder lächerlich zu machen. Antiamerikanische Kritik ist nicht objektiv, sondern nährt sich aus feindseliger Aversion gegen alles Amerikanische, gegen politische, soziale und ökonomische Institutionen und Traditionen.
Auffallend ist, wieviel „Putin-Versteher“ es in Deutschland gab, als dieser die Krim annektierte und Militäraktionen in der Ukraine anzettelte. Der bekannte Historiker Heinrich August Winkler warnt vor der „erschreckenden Putinophilie“, unter deren Einfluss „nicht wenige Deutsche die Westbindung infrage stellen“ (Die Welt, 21.09.2014). Sicherlich gibt es in Deutschland auch Obama-Versteher, aber sie melden sich nicht zu Wort. Obama zu verteidigen ist nicht opportun, entspricht nicht dem neuen Zeitgeist. Bei seinem Amtsantritt setzte man große Hoffnungen auf ihn als den Präsidenten, der im Unterschied zu seinem Vorgänger in der Außenpolitik nicht auf militärische Macht setzte, sondern Amerikas Willen zu partnerschaftlichen Beziehungen betonte. Im Rahmen seiner Möglichkeiten hat er das Versprechen eingehalten, indem er die amerikanische Truppenpräsenz in von vorher besetzten Gebieten beendet oder reduziert hat und dem Druck widerstanden hat, sich auf neue militärische Abenteuer einzulassen. Es ist ihm auch gelungen, gegen enormen Widerstand im eigenen Land die allgemeine Krankenversicherung einzuführen. Wahr ist aber auch: Gelungen ist es ihm nicht, trotz aller Bemühungen, Diskriminierung zu eliminieren, die Todesstrafe abzuschaffen, Guantanamo schnell zu schließen, die Waffengesetze zu verschärfen, ein Einwanderungsgesetz durchzubringen. Deutsche sehen sich in ihren Erwartungen von Obama enttäuscht. Sie übersehen dabei, dass er nicht wie Putin ein autokratischer Herrscher ist, sondern dass er seine Politik in einem demokratischen System durchsetzen muss. Es war für ihn schier unmöglich, in einem Kongress, in dem eine starke, ihm von Anfang an feindlich gesinnte republikanische Partei ihm hartnäckigen Widerstand leistete, alle seine Ziele zu verwirklichen. Wie ganz anders ist doch Putin. Da ist ein starker Mann, der weiß, was er will und der es auch erreicht – wie ist nicht entscheidend. So etwas schätzt man in Deutschland. Obama dagegen erscheint als Schwächling. Der Tagesspiegel schreibt im Oktober, Obama sei nicht länger „gefürchtet“ im Mittleren Osten. Er ist „unentschlossen“ und „halbherzig“. Es scheint als sehne man sich wieder nach einem George Bush zurück, der energisch, militärisch interveniert hätte. Ob militärische Intervention, ob keine militärische Intervention – die Amerikaner sind auf jeden Fall wieder der Sündenbock.
Es gibt eine Menge historischer Untersuchungen, die nachweisen, dass Antiamerikanismus seit eh und je unter dem deutschen Bildungsbürgertum weit verbreitet war, sozusagen zur Selbstvergewisserung des eigenen Bildungsniveaus. Woher kommt es aber, dass in Deutschland seit einigen Jahrzehnten der Antiamerikanismus nicht nur wieder aufgelebt ist, sondern richtig populär wurde, dass er „zum guten Ton“ gehört, wie Henryk M. Broder feststellte (Spiegel, 30.08.2015)? Eingeleitet werden antiamerikanische Bemerkungen meist mit: „Ich habe nichts gegen Amerika, aber … und das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“ Oder: „Ich bin ja nun wirklich kein Freund Amerikas, aber ich muss zugeben, dass amerikanische Musik schon toll ist.“ Peinlich, etwas Positives an Amerika zu entdecken! Als sei es ein Risiko, eine Tabuüberschreitung, Kritisches über Amerika zu sagen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Attitüde des aufgeklärten Amerika-Kritikers verlangt, dass Amerika einfach keinem seiner Ansprüche genügt.
Die Gründe dafür sind vielfältig, aber man kann sie auf eine verkürzte Formel bringen: Deutschland ist seit der Wiedervereinigung nicht nur zu einer ökonomischen Macht geworden, es glaubt sich auch zu einer moralischen Supermacht entwickelt zu haben, die sich erheben muss gegen ein korruptes, materialistisches und bigottes Amerika. Psychologen sprechen von der seelischen Kränkung, die die USA Deutschland zugefügt haben, als sie mit Waffengewalt den nationalsozialistischen Wahn des Volks der Dichter und Denker beendet und ersetzt haben mit dem, wofür Amerika seit seinen Anfängen als Symbol für die Welt steht: Demokratie. Amerikanischer “Ungeist“ hat deutschen „Geist“ besiegt – eine Schmach, die die Deutschen trotz aller Freundschaftsbekundungen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten verdrängt, doch nie vergessen haben. Sie nehmen Amerika übel, dass es auf allen Gebieten dominierend ist: technologisch, kulturell, sprachlich und militärisch. Eine besondere Ironie besteht darin, dass kein anderes europäisches Land so sehr den amerikanischen Lebensstil absorbiert hat wie Deutschland. Die deutsche Sprache ist mit Amerikanismen durchsetzt. Kleidung, Essen, Freizeitgestaltung sind amerikanisch beeinflusst. Rührend mutet es an, wenn eine deutsche Hausfrau aus besseren Kreisen schnippisch sagt: Nein, Coca Cola gibt es bei uns im Haus nicht, und mein Mann trägt auch keine Blue Jeans. Tapferer antiamerikanischer Widerstand. Gegenüber dem Ansturm von Amerikanischem bleibt als Abwehr noch der Verweis auf Deutschlands ehemalige Hochkultur, auf die Dichter, Denker, Komponisten und Nobelpreisträger. Aber auch dieses Argument ist schwach, denn dabei handelt es sich um Vergangenheit. Und wenn man schon die deutschen Nobelpreisträger als erfolgreiche Repräsentanten deutscher Kulturüberlegenheit gegen Amerika anführen will – 103 deutsche Preisträger hinken 320 amerikanischen hinterher.
Seit ihrer Gründung vor mehr als 200 Jahren haben die Vereinigten Staaten nichts von ihrer Anziehungskraft für Menschen aus aller Welt verloren. Notorische Amerika-Hasser geraten in Verlegenheit, wenn sie dieses Phänomen erklären sollen. Wie kann ein Land, das in ihren Augen nach außen für alle Kriege und die globale Ausbeutung in der Welt verantwortlich ist, das im Innern zerrissen ist von sozialen und rassistischen Konflikten, wo Mord und Todschlag auf den Straßen herrscht, weil alle eine Waffe tragen dürfen, wo brutaler Kapitalismus regiert – wie kann ein solches Land diese Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt ausüben? In den USA geborene Kinder von Ausländern, auch wenn sich die Eltern illegal in den USA aufhalten, erwerben durch die Geburt auf amerikanischem Boden das Recht auf die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nicht nur Mexikaner, sondern sogar auch reiche Chinesinnen nützen seit einigen Jahren diese Möglichkeit, ihr Kind in Amerika zur Welt zu bringen, um es so zum sogenannten „anchor baby“ zu machen. Damit haben sie ihr Kind in den USA „verankert“ und sich die Möglichkeit geschaffen, Familienmitglieder im Rahmen einer Familienzusammenführung in die USA holen zu können. Es ist nicht bekannt, dass Menschen sich große Mühe geben, in Putins Russland Fuß zu fassen. Worin also – so die Frage an die antiamerikanischen Kritiker der USA – liegt diese Anziehungskraft, die die USA seit ihrem Bestehen auf die Welt ausübt? Sie werden sie nicht überzeugend beantworten können. Aber sie werden ihre aus Ressentiments geborene Aversion gegen die Vereinigten Staaten nicht aufgeben.