Die USA erleiden in diesen Monaten eine wirtschaftliche Katastrophe von gigantischem Ausmaß. Es ist eine Katastrophe, die in ihrem plötzlichen Auftreten einmalig in der Geschichte der USA ist. Fünf Jahre kontinuierliches Wachstum wurde im zweiten Quartal von 2020 zunichte gemacht. Der Ausbruch der Coronavirus-Pandemie hat bewirkt, dass Unternehmen nicht mehr investieren und Konsumenten nicht mehr konsumieren. Der Präsident, der drei Jahre lang mit erfolgreichen Wirtschaftsdaten geprahlt hat und gehofft hatte, dass sie ihm zur Wiederwahl im November verhelfen würden, sieht seine Chancen schwinden.
Es ist der Trump-Administration bisher nicht gelungen, eine nationale Strategie gegen das Coronavirus zu entwickeln. Die Folge ist, dass es sich durch alle Bundesstaaten hindurch ausdehnt und inzwischen über 160.000 Amerikaner das Leben gekostet hat. Millionen anderer hat es den Arbeitsplatz gekostet. Seit 27. März erhielten 30 Millionen Bürger staatliche Arbeitslosenhilfe von 600 Dollar pro Woche, doch das Programm war am 31. Juli 2020 beendet, ebenfalls der Kündigungsschutz für zahlungsunfähige Mieter. Im Kongress streiten sich Republikaner und Demokraten tagelang über weitere Hilfsmaßnahmen, und noch ist offen, inwieweit der Staat seinen notleidenden Bürgern helfen wird. Da die Coronakrise nicht unter Kontrolle ist und die Wirtschaft weiterhin im Argen liegt, ist noch mit einer Zunahme an Menschen ohne Krankenversicherung, Arbeitslosen und Obdachlosen zu rechnen.
Bedingt durch ihre prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen grassiert das Coronavirus besonders unter der schwarzen Bevölkerung, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Schwarzen wütend auflehnen gegen rassistische Diskriminierung und Gewaltanwendung seitens der Polizei.
Wie kann solches menschliche Elend möglich sein in einem Land, das als reichstes der Welt gilt? Wie kann es möglich sein, dass in einem Land, in dem die Mehrheit seiner Bürger sich Christen nennen die christliche Nächstenliebe so wenig zur Linderung der Not beiträgt? Wie kann es sein, dass 155 Jahre nach der Sklavenbefreiung und 57 Jahre nach dem Bürgerrechtsakt, der die Rassensegregation aufhob, die Afro-Amerikaner von der weißen Bevölkerung noch immer als Bürger zweiter Klasse angesehen werden?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, muss man einige spezifisch amerikanische Phänomene betrachten. Das Tragen einer Gesichtsmaske wird von Gesundheitsexperten
dringend empfohlen, weil sie weniger für den Träger selbst aber für die Mitmenschen Schutz vor Infektion durch das Coronavirus bietet. Die Mehrheit der Amerikaner folgt dieser Empfehlung. In einigen Staaten ist sie nicht nur Empfehlung, sondern gesetzlich angeordnete Pflicht. Eine Minderheit jedoch verweigert sich nicht nur dieser Pflicht, sondern bekämpft sie sogar aggressiv. Begründung ist, dass die Verfassung dem Bürger individuelle Freiheit garantiere und eine Regierung daher kein Recht habe, ihn gegen seinen Willen zu zwingen, eine Maske zu tragen. Der Masken-Verweigerer lässt sich nicht beeindrucken von Hinweisen darauf, dass er sein Auto versichern muss, dass er, wenn er fährt, einen Sicherheitsgurt anlegen muss und dass er andere Regeln einhalten muss, die nötig sind, um ein reibungsloses gesellschaftliches Miteinander zu gewährleisten. Auch der Hinweis darauf, dass seine Maske dem Schutz der Mitmenschen diene und er egoistisch handele, wenn er sie nicht trage, erschüttert ihn nicht. Er hat ja die Verfassung auf seiner Seite, die ihm das Recht auf Egoismus gibt. So offen brutal sagt er das nicht, aber es entspricht dem Sachverhalt.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass derselbe Maskenverweigerer zur Gruppe der Amerikaner gehört, die von ihrem Land behaupten, es sei eine christliche Nation. Eigentlich dürfte man von Christen Nächstenliebe erwarten. Wenn das eine zu große Erwartung ist, dann wenigstens die freie säkulare Entscheidung, Verantwortung für den Mitmenschen zu übernehmen.
Das Ideal der individuellen Freiheit liegt in den USA immer im Konflikt mit sozialer Verantwortung für die Gesellschaft. Ein Beleg dafür ist der Kampf um die Einführung einer Krankenversicherung für alle Bürger. Gegen erbitterten Widerstand der Republikaner ist es Präsident Obama gelungen, eine gesetzliche Krankenversicherung einzuführen – für Millionen Amerikaner, aber noch nicht für alle. Das Argument der Gegner lautet: „Der Staat darf mich nicht zwingen in ein System einzutreten, das von mir verlangt, Kosten für andere zu übernehmen.“ Wieder ein von der Verfassung legitimiertes Recht, sich frei gegen gesellschaftliche Solidarität zu entscheiden, wenn sie von der Regierung eingefordert wird.
Soziale Institutionen zum Schutz der Schwachen in einer Gesellschaft, wie sie in europäischen Ländern üblich sind, werden als unamerikanische Elemente von all jenen abgelehnt, die sich auf amerikanische Traditionen berufen. Vor allem konservative Republikaner gehören zu jenen Menschen, die den spezifisch amerikanischen Menschen als „Selfmade Man“ verstehen. Selbst im 21. Jahrhundert lebt immer noch etwas vom Pioniergeist der ersten Einwanderer. Oft flohen sie vor Unterdrückung in ihren Heimatländern, suchten Freiheit in Amerika, wo sie allein auf sich selbst gestellt, ohne Hilfe durch eine Regierung, sich eine Existenz aufbauen mussten. Das Leben besteht im Kampf des Einzelnen um den persönlichen Erfolg im Wettbewerb mit anderen, so war es damals und so ist es auch noch heute. Das ist die Maxime, die sich aus dem wirtschaftlichen System des Kapitalismus ableitet. Aus dieser Perspektive muss alles „Sozialistische“ wie der Teufel bekämpft werden.
Pioniergeist ist auch lebendig in der Tradition des persönlichen Waffenbesitzes. Trotz vieler Berichte über Vorfälle, wo Bürger auf Bürger geschossen haben, entweder aus emotionaler Unbeherrschtheit oder aber auch, um sich gesetzlich legitimiertes Recht zu verschaffen – z.B. bei einem unberechtigten Haus-Eindringling – ist es der mitgliederstarken Waffen-Lobby (National Rifle Association) gelungen, eine Gesetzgebung zu verhindern, die den Waffenbesitz verboten oder zumindest streng kontrolliert hätte. Wieder ist es die Verfassung, die als Argument dienen muss. Ihr 2. Zusatzartikel verbietet der Regierung, das Recht zum Besitz und Tragen von Waffen einzuschränken. Geleugnet wird von den Waffenliebhabern, dass in einer modernen Massengesellschaft andere Bedingungen gelten als in der Pionierzeit. Und die fundamentalistischen Christen können keine Stelle im Neuen Testament finden, in der Jesus dafür plädiert hätte, seinem Nächsten mit der Pistole im Halfter zu begegnen.
Das bisher geschilderte Bild Amerikas ist richtig, aber – und das ist extrem wichtig: Es stellt nicht die gesamte Wirklichkeit des Landes dar. Was als typisch amerikanische Denk- und Verhaltensweisen charakterisiert wurde trifft natürlich nicht auf alle Amerikaner zu.
Es beschreibt vielmehr den Typ des Amerikaners, der dem Europäer unrichtigerweise als die Verkörperung alles Amerikanischen schlechthin erscheint. Konkret beschreiben lässt sich dieser Typ politisch als konservativer Republikaner, religiös als fundamentalistischer Bibelchrist und gefühlsmäßig als Idealisierer der Vergangenheit. Dem gegenüber steht der andere Typ des Amerikaners: politisch ein liberaler Demokrat, religiös ein liberaler Christ, Agnostiker oder Atheist, gefühlsmäßig ein progressiver Optimist.
Es ist in den letzten Jahren viel vom amerikanischen „Kultur-Krieg“ geredet worden. Gemeint ist damit der Kampf der beiden Typen gegeneinander und der politischen und philosophischen Auffassungen, die sie verkörpern. Lange wurde das oben beschriebene Bild Amerikas vom konservativen Typ des Amerikaners bestimmt. Es könnte sich aber ein Zeitenwandel ankündigen, ausgelöst durch die dramatischen Ereignisse der letzten Monate.
Zeitgleich mit dem Ausbruch der Corona-Krise häuften sich Vorfälle, bei denen schwarze Bürger von weißen Polizisten so brutal behandelt wurden, dass mehrfach Schwarze von Polizisten getötet wurden. Ein Fall, bei dem ein Schwarzer, neuen Minuten lang unter dem Knie eines Polizisten liegend, erstickte, brachte das Fass zu Überlaufen und löste eine Woge von Demonstrationen in vielen Städten des Landes aus. Unter dem Kampfruf „Black lives matter“ (Schwarze Leben sind wichtig) protestierten Schwarze gegen die andauernde Diskriminierung durch die weiße Bevölkerung. Bemerkenswert ist, dass bei vielen Demonstrationen der Anteil weißer Teilnehmer größer war als der der Schwarzen.
Es scheint sich hier eine Wende anzukündigen. Die Bürgerrechtsbewegung führte 1964 zum Erlass des „Civil Rights Act“, einem Gesetz, das die Rassensegregation legal beendete und jegliche rassistische Diskriminierung verbot. Es brachte jedoch nicht die gesellschaftliche Gleichstellung der Schwarzen. Noch waren die Weißen eine Mehrheit und viele waren nicht bereit, Schwarze als gleichwertige Partner anzuerkennen. Das Überlegenheitsgefühl vieler Weißen war ein Bewusstseinszustand, der sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte und nicht schnell durch ein Gesetz verändert werden konnte. Doch jetzt, ein halbes Jahrhundert nach dem Civi Rights Act, scheint sich eine radikale Wende anzubahnen. Die Teilnahme so vieler Weißer an den von Schwarzen inszenierten Demonstrationen ist Ausdruck von Verständnis für die Situation der Schwarzen und ein daraus resultierendes Gefühle der Solidarität mit ihnen.
Voller Bedeutung erscheint in diesen Wochen der Tod von John Lewis. Am 17. Juli dieses Jahres starb der achtzigjährige Lewis, der sein gesamtes Leben eingesetzt hat für die Gleichstellung der Schwarzen in der amerikanischen Gesellschaft, für eine wahre Demokratie. Als einer der Führer der Bürgerrechtsbewegung kämpfte er an der Seite von Martin Luther King. Demokratie war für ihn eine ethische Forderung, die er durch praktisches Handeln mit Leben erfüllte. Er hielt unzählige Reden, nahm an mehreren Protestmärschen teil und wusste, dass er sein Leben riskierte. Am 7. März 1965, auf dem Marsch von Selma nach Montgomery in Alabama wurde ihm, der friedlich demonstrierte, von der Polizei der Schädel zertrümmert. Er überlebte jedoch und setzte unbeirrt den Kampf für die Gleichstellung der Schwarzen fort, für die Unterstützung ausgebeuteter Arbeiter, Arbeitsloser, Obdachloser – kurz: für die soziale Absicherung all jener, die in einer existentieller Not sind, die von der Gesellschaft ignoriert wird. Es ist ein Kampf gegen das, was der Ökonom Paul Krugmann „America’s cult of selfishness“ (Kult des Egoismus) genannt hat (The Cult of Selfishness Is Killing America, NYT, 27. 7. 2020).
Anlässlich seines Todes wurde Lewis in eindrucksvollen Reden gewürdigt, nicht nur deswegen, weil er gegen Diskrimination und Ungerechtigkeit kämpfte und alle ermutigte, sich diesem Kampf anzuschließen – er tat es friedlich und aus einem Gefühl radikaler Liebe, die nicht einmal seine Gegner ausschloss. Für ihn war Demokratie ein System, das auf dem Prinzip ethischer und sozialer Verantwortung basiert, die nicht nur geglaubt, sondern ständig praktiziert werden sollte. Er vereinigte in seinem Leben humanitäre und christliche Werte. Für Lewis gab es keinen Konflikt zwischen Bibel und Verfassung.
Zwei Tage vor seinem Tod schickte Lewis einen Essay an die New York Times mit der Bitte, ihn am Tag seiner Bestattung zu veröffentlichen. Es ist ein Aufruf von jenseits des Grabes an die junge Generation, die auf Grund der Ereignisse der letzten Zeit ihm Hoffnung für Amerika gab: „Ihr habt mich mit Hoffnung für das nächste Kapitel der großen amerikanischen Erzählung erfüllt, als ihr eure Macht gebraucht habt, einen Wandel in unserer Gesellschaft zu bewirken. Millionen von Menschen, motiviert einfach nur durch menschliches Mitgefühl, haben die Last der Teilung abgelegt. Im ganzen Land und in der Welt habt ihr Rasse, Klasse, Alter, Sprache und Nationalität beiseitegelegt, um Respekt für menschliche Würde einzufordern.“
Der ehemalige Präsident George W. Bush würdigte Lewis in seiner Rede bei der Trauerfeier: „John Lewis glaubte an Gott, er glaubte an Humanität, und er glaubte an Amerika. Er ist ein amerikanischer Heiliger genannt worden, ein Gläubiger, der bereit war alles aufzugeben, selbst das Leben, um Zeuge zu sein für die Wahrheit, die ihn sein ganzes Leben angetrieben hat. Nämlich, dass wir eine Welt bauen könnten, voller Frieden und Gerechtigkeit, Harmonie und Würde und Liebe. Und der erste entscheidende Schritt auf diesem Weg war die Erkenntnis, dass alle Menschen nach dem Bild Gottes geboren sind und den Funken des Göttlichen in sich tragen.“
Umso gewichtiger sind diese voller Emotion und Teilnahme gesprochenen Worte, weil sie von einem republikanischen Expräsidenten stammen, der politisch im gegnerischen Lager stand.
Eine Voraussetzung dafür, dass sich die Hoffnung von John Lewis für das nächste Kapitel der amerikanischen Geschichte erfüllen wird, würde eine Wahlniederlage des amtierenden Präsidenten im November sein.
Donald Trump nahm nicht an der Trauerfeier für John Lewis teil.