Amerika am 4. Juli 2020

Der 4. Juli, an dem 1776 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben wurde, ist  Amerikas wichtigster nationaler Feiertag. Es ist Sommer, tagsüber macht man Picknick im Freien, abends gibt es allenthalben Feuerwerke – landesweit herrscht Partystimmung.  So war es in früheren Jahren. Dieses Jahr ist alles etwas anders. Dafür gibt es drei Gründe: Im ganzen Land explodiert das Coronavirus, auf den Straßen gibt es nicht endende Massendemonstrationen gegen Rassismus und zu alle dem ist 2020 ein Wahljahr, in dem ein Präsident alle bösen Geister aktiviert, um im November wieder gewählt zu werden. Parties werden gefeiert, eher aus Trotz gegen Coronavisus als aus Lebensfreude, hie und da gibt es Feuerwerke, nicht überall sind sie erlaubt, und der Präsident hält Festreden, die eigentlich Wahlkampfreden sind, und in Washington sind die Flaggen auf Halbmast gesetzt. Richtige Partystimmung kommt nicht auf. Im Gegenteil: Eine Art unterschwelliger Depression liegt über dem Land, das Gefühl der Ausweglosigkeit angesichts einer Situation, der niemand mehr Herr zu werden scheint. Was ist mit dem Traum von Amerika geschehen?

Seit Beginn der Geschichtsschreibung wird berichtet, dass es über Kontinente und Kulturen hinweg die Norm war, dass die Starken die Schwachen unterworfen haben. Die reichen Machthaber saßen oben, während die anderen ihr Leben als Arbeiter gefristet haben und von ihrem mageren Einkommen noch einen Teil an die Mächtigen abgeben mussten. Reichtum wurde erworben, indem man mit Gewalt nahm, was andere produziert hatten. Aber irgendwann tauchten neue Gedanken auf, nämlich der Anspruch, dass Menschen Rechte hatten, die über die Rechte hinausgingen, die vom König verliehen worden waren. Beispiele für dieses neue Denken finden sich schon im antiken Griechenland und Rom, aber sie setzten sich nicht durch, dafür sorgten die Mächtigen.

Doch dann kam die Entdeckung Amerikas. Es war die Entdeckung einer neuen Welt. Sie wurde zum Laboratorium, in dem die neuen Ideen aufblühen und gedeihen konnten. Ein Glück für das junge Land war, dass es in diesem Augenblick des Entstehens ein paar kluge, besonnene und weitblickende Männer hatte, die zu den „Founding Fathers“, den Gründervätern der Nation wurden, indem sie  Dokumente verfassten, die für die nächsten Jahrhunderte die Geschicke der Republik bestimmen sollten: die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung. In diesen beiden Dokumenten wurden als Prinzipien die Rechte festgelegt, die den Menschen vom Schöpfer verliehen seien – nämlich Gleichheit, individuelle Freiheit, persönliches Eigentum und eine vom Volk gewählte Regierung. Leider galten diese Rechte nur für  weiße Amerikaner, nicht für die Schwarzen, die als Sklaven für sie arbeiten mussten.

Trotz ihrer Klugheit waren die Gründerväter alles andere als perfekt.  Sicherlich war die Zeit, in der sie lebten, ein Grund dafür. Aber es ist die Frage, ob diese Erklärung allein als Entschuldigung dienen kann, denn schließlich wird die Zeit gestaltet von den Menschen, die in ihr leben  Und diese sahen zwar alle Menschen als „gleich geschaffen“ an, aber hatten nicht den Blick dafür, dass Schwarze, die auf den Plantagen als rechtlose Sklaven arbeiteten, auch Menschen waren. Auch wenn sie die Diskrepanz zwischen den Idealen von Freiheit und Gleichheit und der Situation der Schwarzen erkannten, wollten sich die Gründerväter den Profit, der ihnen der Zeitgeist ermöglichte, nicht entgehen lassen. Auch sie hielten sich Sklaven und müssen sich daher den Vorwurf der Heuchelei gefallen lassen. Dennoch muss man zugeben, dass die von ihnen verfassten Gründungsdokumente der USA einen Quantensprung in der Entwicklung menschlicher Geschichte hin zu einer gerechteren Gesellschaft bedeuteten.

Der Traum vom menschheitsgeschichtlichen Neuanfang, der Traum vom Amerikaner als neuem Adam, als einem Adam vor dem Sündenfall, erfüllte sich nicht. Am Anfang der  Geschichte Amerikas lud der weiße Amerikaner die Sünde der Sklaverei auf sich – eine Sünde, die nicht mit der offiziellen Sklavenbefreiung endete, nicht mit dem Civil Rights Act von 1964, sondern sich bis in unsere Tage fortsetzt als Diskriminierung der afro-amerikanischen Bürger. „White Supremacy“, Vorherrschaft der Weißen ist ein Schlagwort, dessen offener Gebrauch tabu ist. Unterschwellig lebt es jedoch noch, und die von ihm verkörperte Gesinnung offenbart sich in den vielen Fällen alltäglicher Missachtung und Ungleichbehandlung, die schwarze von den weißen Bürgern erleiden müssen. Auf dem Arbeitsmarkt, in Schulen und Universitäten, auf dem Wohnungsmarkt – überall haben Schwarze die schlechteren Chancen, wenn sie gegen Weiße konkurrieren.

In den letzten Wochen ist das besonders aggressive Verhalten der Polizei gegenüber Afro-Amerikanern zum Thema geworden. Ausgelöst wurde es durch eine Reihe von polizeilichen Auseinandersetzungen mit Schwarzen, bei denen Polizisten Schwarze getötet haben. Ganz eklatant war ein besonders grausamer Fall, bei dem ein Polizist   einen auf dem Boden liegenden Schwarzen mit dem Knie auf den Nacken drückte, nicht auf dessen flehentliche Bitten hörte, ihn atmen zu lassen, sondern über acht Minuten lang weiter auf ihm kniete, bis der Schwarze erstickte. Mehrere Polizisten schauten zu, ohne einzuschreiten. Die Horrorszene wurde gefilmt und löste als Video im Fernsehen einen Massenaufstand der Afro-Amerikaner aus.

Wochenlang gab es täglich  Demonstrationsmärsche durch Amerikas Städte, die meist friedlich waren, aber an manchen Orten auch zu gewaltsamen Ausschreitungen mit Zerstörungen von Geschäften und Plünderungen führten. „Black lives matter“ (schwarze Leben haben Bedeutung) ist das Schlagwort, mit dem die Schwarzen gegen ihre Unterdrückung ankämpfen. Zwischen 15 und 25 Millionen in 2.500 Städten nahmen an den Demonstrationen teil. Auffallend ist, dass fast zwei Drittel der Teilnehmer Weiße waren, die sich den Protesten der Schwarzen anschlossen. Es hat den Anschein, als wäre der weiße Teil Amerikas aufgewacht und sei sich seiner jahrhundertealten Versäumnisse und rassistischen Sünden bewusst geworden. Historiker glauben, dass die Demonstrationen die mächtigste soziale Protestbewegung in der Geschichte Amerikas sind.

Die Zeit der Protestdemonstrationen fällt in die Zeit, in der das Coronavirus im ganzen Land grassiert und schon über hunderttausend Menschen das Leben gekostet hat. In dieser angespannten Lage hätte das Land einen Präsidenten gebraucht, der mit aller Kraft sowohl den Kampf gegen das Virus geführt hätte als auch gleichzeitig sich darum bemüht hätte, die auseinander driftenden Teile der Gesellschaft zusammenzubringen und versöhnend auf sie einzuwirken. Keine dieser Erwartungen erfüllte Präsident Trump. Im Gegenteil.

Im November ist Präsidentschaftswahl, und Trump hat sich für eine Wahlstrategie entschieden, die sowohl die gesellschaftliche Spannungen extrem verschärft als auch den Kampf gegen das Virus überwältigend scheitern lässt. Trump ist davon überzeugt, dass  der Zustand der Wirtschaft entscheidend ist. Solange die Wirtschaft blühte, war er sich seines Erfolgs sicher. Nachdem das Auftreten des  Coronavirus die Wirtschaft lahm gelegt hat, Betriebe still gelegt wurden, unzählige Menschen den Arbeitsplatz und mit ihm ihre Krankenversicherung verloren haben, sieht Trump seine Felle davon schwimmen. Seine Umfragewerte liegen zweistellig unter denen seines Herausforderers, dem Demokraten und ehemaligen Vizepräsidenten Obamas, Joe Biden.

Trumps Wahlkampfstrategie hat zwei Schwerpunkte. Der erste besteht im Herunterspielen des Ausmaßes und Ernstes der Coronavirus-Pandemie. Am Anfang ihres Auftretens versprach er, dass sie nur eine Version der üblichen Grippe sei und bei wärmerem Wetter bald von allein verschwinden würde. Als das Coronavirus ihm nicht diesen Gefallen tat, sondern in allen Staaten massenhaft wütete und die Zahl der Toten 130.000 überschritt, weigerte sich Trump, eine von seiner Administration koordinierte Abwehrstrategie zu entwickeln. Die Verantwortung für Schutzmaßnahmen läge bei den einzelnen Staaten, für sich als Präsident lehnte er jegliche Verantwortung ab. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, bei Pressekonferenzen Therapien zu empfehlen, die so gesundheitsschädlich wie absurd waren, wie z.B.  Küchen-Reinigungsmittel zu injizieren.

Als seine Gesundheitsberater als eine der Schutzmaßnahmen das Tragen einer Gesichtsmaske propagierten, wurde das von Trump als unverbindliche Empfehlung kommentiert, mit der zusätzlichen Erklärung, dass er persönlich keinesfalls eine Maske tragen würde. Seine fanatischen Anhänger nahmen sich Trump als Vorbild, beriefen sich auf die Verfassung, ihr Recht auf Freiheit und verweigerten die Verwendung von Masken. Damit war die Maske zum Politikum geworden. Trump-Anhänger zeigen sich in der Öffentlichkeit als maskenlose Patrioten, die dem Virus und verweichlichten, maskentragenden Demokraten mutig trotzen.

Die Pandemie hat alle wirtschaftlichen Aktivitäten auf ein Mindestmaß beschränkt. Dem konnte Trump nicht länger zusehen, denn er weiß, dass ohne erfolgreiche Wirtschaft seine Wahlchancen äußerst gering sind. Diese Erkenntnis treibt ihn an, Druck auf die Gouverneure auszuüben. Die Wirtschaft müsse schleunigst wieder angekurbelt werden und dazu sei es von großer Wichtigkeit, dass möglichst viele, wenn nicht sogar alle, von den Gouverneuren erlassene Restriktionen aufgehoben würden. Die Gesundheitsexperten warnen vor einem Aufheben der Restriktionen, bevor nicht die Infektionen  beträchtlich zurückgegangen seien. Trump-treue Gouverneure folgten jedoch seiner Forderung, mit dem Ergebnis eines sprunghaften Anstiegs der Krankheiten. Unbeeindruckt vom Anstieg der Infektionen fordert Trump jetzt auch noch, dass die Schulen planmäßig nach Beginn der Sommerpause geöffnet werden und Unterricht wie gewohnt stattfindet, andernfalls er Gelder für nicht kooperierende Schulen sperren werde.

In  seiner Rede vor dem Rushmore-Monument, das die in den Fels gehauenen Gesichter von vier Präsidenten zeigt und in seiner Rede zum 4. Juli zeigt sich, was der zweite Schwerpunkt von Trumps Wahlkampfstrategie ist,  nämlich der Versuch, seine Gegner als Feinde des wahren und guten Amerikas zu diffamieren und sich selbst als Hüter des glorreichen kulturellen Erbes des Landes zu präsentieren. Dabei zeigen sich die beiden Wesensmerkmale seiner Natur, die ihm bisher Erfolg bei einem bestimmten konservativen Segment der Bevölkerung eingebracht hat: Nationalismus und Rassismus. Als ein Präsident, der „Law and Order“ (Gesetz und Ordnung) bewahren bzw. herstellen will, auch mit Gewalt,  angesichts des Aufruhrs der Schwarzen in den Straßen – so möchte er gesehen werden.

Die landesweite Protestbewegung führt zu einer Art Revision der amerikanischen Vergangenheit und dem Wunsch, alles abzuschaffen bzw. zu zerstören, was an sichtbaren Symbolen von den die Sklaverei verteidigenden Südstaaten noch sichtbar ist:  Monumente, nach  Südstaaten-Generälen benannte Kasernen, die Flagge der konföderierten Staaten – all das, wodurch das schwarze Amerika an seine traurige Vergangenheit erinnert wird. Trump als der Bewahrer der großen amerikanischen Geschichte stemmt sich dem entgegen und hofft damit, den unterschwelligen Rassismus eines Teils des weißen Amerikas für seine Zwecke zu aktivieren.

Die Schuldigen an dem Aufruhr hat Trump auch schon ausgemacht. Es sind die „unpatriotischen“ Demokraten und „Sozialisten“, die als „radikale Anarchisten“ dafür sorgen, dass die Kinder schon in den Schulen  gelehrt werden, die Vereinigten Staaten zu „hassen.“ Aber denen werde er es zeigen. Er sei dabei, die „radikale Linke, die Marxisten, die Anarchisten, die Agitatoren, die Plünderer zu besiegen“ (Rede am Weißen Haus).

Auch in seiner Rushmore-Rede findet Trump kein Wort des Verständnisses für den Aufstand der Schwarzen, er macht keinen Versuch, das schwarze Amerika mit dem weißen Amerika zu versöhnen. Er kalkuliert, dass ein Aufheizen der rassistischen Ressentiments seine Chancen, die Wahl zu gewinnen, vergrößert.

Trumps Rassismus offenbarte er schon vor seiner Wahl zum Präsidenten. Der schwarze Barak Obama sei in Kenia geboren; afrikanische Länder nannte er  „shitholes“ (Scheißlöcher); mexikanische Immigranten seien Drogendealer und Vergewaltiger. Solche Bemerkungen sind Zunder für seine Anhänger. Das Video eines Unterstützers, der laut „White Power“ (Weiße Macht) fordert, veröffentlicht Trump unter seinen Tweets. Später redet er sich heraus, er hätte den Ruf nicht gehört. Das Coronavirus wird von ihm meist als „China-Virus“ bezeichnet, wie um zu betonen, dass alles Böse, wie etwa auch die Immigranten, von außen kommt.

Trump ist nicht zimperlich in seiner Wortwahl. Seine Gegner versucht er lächerlich zu machen, indem er ihnen erniedrigende und beleidigende Beinamen gibt, wie z.B. „Corrupt Hillary“; die Sprecherin im House of Repräsentatives, Nancy Pelosi, nennt er  „eine kranke Person mit mentalen Problemen“; seinen Gegner bei der Wahl beschreibt er als „sleepy Joe“ (schläfriger Joe). Joe Biden, der Vizepräsident Obamas, ist 78 Jahre alt, gesund, aber nicht gerade strotzend vor Energie. Er ist ein gemäßigter Demokrat der Mitte, der unmöglich als radikaler Liberaler oder Sozialist bezeichnet werden kann. Bisher ist er nur selten in der Öffentlichkeit erschienen. Dennoch liegt er in Umfragen zweistellig vor Trump, was wohl daran liegt, dass viele Menschen in ihm einen Präsidenten sehen, der beruhigend und versöhnend auf das gespaltene Land wirken könne. Besorgt sind einige seiner Anhänger, dass er den Wahlkampf nicht auf dem niedrigen Niveau führen will und kann, das man von Trump erwartet.  Für skrupellosen Rufmord hat Trump eine natürliche Begabung. Biden muss sich gefasst machen auf eine schmutzige Flut von Lügen, Unterstellungen, Anklagen und Untersuchungen. Es bleibt zu hoffen, dass eine Mehrheit der Amerikaner sich nicht täuschen lässt.