Amerika – eine klassenlose Gesellschaft?

Wie ein Bazillus durchdringt der Konservatismus seit der Präsidentschaft Reagans das kollektive Bewusstsein Amerikas. Moralische, religiöse, soziale und ökonomische Wertvorstellungen verschmelzen zu einem Machtgefüge, in dem Politik und Wirtschaft sich verbünden unter dem Banner einer kapitalistischen Gesellschafts- und Marktordnung. Widerstand regt sich kaum noch. Kritik am kapitalistischen System wird als sozialistisch oder gar kommunistisch diffamiert. Der Liberalismus war traditionell immer ein Bollwerk gegen Machtexzesse. Aber heute sind die Säulen des Liberalismus – Presse, Universitäten, Arbeitergewerkschaften, liberale Kirchen und die demokratische Partei – zusammengebrochen unter der Macht der global operierenden Konzerne. Damit haben die Armen, die Arbeiter- und Mittelklasse ihren Fürsprecher verloren. Ohne Widerstand liberaler Institutionen können Konzerne ihre Macht über alle Bereiche der Gesellschaft ausdehnen, können Arbeitsmarkt, Erziehungssystem, Presse, Kirchen, Kultur und Politik nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Die Übermacht der Konzerne hat dazu geführt, dass Liberale sich gezwungen fühlten, ihr eigentliches Glaubenssystem zu verleugnen und sich auf die Seite der Konzerne zu schlagen. Intellektuelle sind vor Angst gelähmt, sie könnten mit gesellschaftskritischen Forderungen in den Ruf kommen, Extremisten, Sozialisten oder gar Kommunisten zu sein.

Die Demokratische Partei, früher Verfechterin liberaler Vorstellungen, ist inzwischen so sehr in den Sog der Machtelite geraten, dass sie weitgehend den Widerstand aufgegeben hat und opportunistisch akzeptiert, was eigentlich gegen ihre Moral sein sollte. Kritik an ungezügeltem Kapitalismus gehört zwar immer noch zum Rede-Repertoire demokratischer Politiker, aber eigentlich haben sich alle daran gewöhnt, dass Kapital die Welt regiert, dass Globalisierung eine Notwendigkeit des freien Marktes sei und dass die wachsende Kluft zwischen Armen und Reichen, zwischen Schwachen und Starken, ein Naturgesetz sei. Der kürzlich gewählte Gouverneur von Florida gewann den Wahlkampf, weil er für die Werbung 75 Millionen ausgab. Als Multimilliardär konnte er die aus der eigenen Tasche bezahlten. Ein nicht so betuchter Kandidat, der sich seinen Wahlkampf finanzieren lassen muss, muss sich die Gelder da suchen, wo sie sind, nämlich bei den großen Wirtschaftsunternehmen. Die finanzieren ihm den Wahlkampf, machen ein Investment in ihn und – Geschäft ist Geschäft – erwarten natürlich eine Gegenleistung. Soll man von solchem Politiker erwarten, dass er dafür kämpft, die Macht seiner Geldgeber einzuschränken? Seine Niederlage wäre vorprogrammiert.

Obwohl Politiker aller Couleur sich als Kämpfer für die so genannte Mittelklasse aufführen, bestehen sie darauf, dass es in Amerika keine Klassen gibt. Wo es keine Klassen gibt, kann es auch keinen Klassenkampf geben. Wehe ein Politiker weist auf die gigantischen Einkommensdiskrepanzen hin. Gleich macht man ihn mundtot mit dem Argument, er wolle den Klassenkampf schüren. Das aber sei total unamerikanisch und damit tabu. Um sich des Zugangs zu den Mächtigen zu brüsten, biedern sich Journalisten Wallstreet Investoren, Bankers und Politikern an, machen Gefälligkeitsinterviews mit ihnen, bei denen die Wahrheit verborgen bleibt, wie z.B. dass ein von Spekulanten verwaltetes Finanzsystem nicht das geeignete Medium ist, dem der kleine Mann seine Lebensersparnisse anvertrauen sollte. Die Medien, vor allem Fernsehen und Radio, sind kommerzialisiert und finanzieren sich fast ausschließlich über Werbespots. Sie würden das Wohlwollen ihrer Geldgeber verlieren, produzierten sie Programme, die sich wirklich kritisch mit den Praktiken der Wirtschaft auseinandersetzten. Außerdem würde so etwas die Masse der Fernsehzuschauer verstimmen, die leichte Unterhaltung konsumieren wollen.

Der religiöse freie Markt stellt ein Riesenangebot an Kirchen zur Verfügung, für jeden Geschmack gibt es eine. Auch beim religiösen Konsum spielt die Werbung eine wichtige Rolle. Dem Pfarrer, der sich, seine Botschaft und seine Kirche am besten verkauft, strömen die meisten Mitglieder zu , und da die Kirche ein privatwirtschaftliches Unternehmen ist, wächst mit der Zahl der Gemeindemitglieder sein Gehalt und die Größe des Kirchengebäudes. Die christlichen Kirchen sehen ihre Aufgabe nicht im Kampf für gesellschaftliche Gerechtigkeit, angemessene Einkommen für alle und staatliche Fürsorge für die Verlierer im brutalen Wettbewerb, sondern sie schaffen sich ein gutes Gewissen durch private Wohltätigkeitsveranstaltungen. Das sind Hilfeleistungen, die lediglich einige Notsymptome lindern. Das System, in dem die Not entsteht, wird dadurch überhaupt nicht in Frage gestellt, es wird im Gegenteil konsolidiert, da private, die schlimmste Not lindernde Wohltätigkeit dem Staat erlaubt, den Gesetzen des Marktes alle Macht einzuräumen.

Kritisches Denken, Auseinandersetzung mit Machtsystemen, Fragen über kulturelle, gesellschaftliche und politische Anschauungen – dies sollten Bildungsaufgaben von Universitäten sein. Sie sind es nicht mehr. Sie haben sich stattdessen in Ausbildungsinstitute für Berufe verwandelt, die sich Gewinn versprechend vermarkten lassen. Sie sind Brutstätten für künftige Manager, die dem kapitalistische System dienen und gleichzeitig seine Erfolgschancen nutzen wollen. Das entspricht durchaus der Erwartung der Wirtschaftsunternehmen, die mit Stiftungen und Spenden zu den größten Geldgebern gehören. Uni-Präsidenten müssen nicht unbedingt über akademische Kenntnisse verfügen, dafür aber ein besonderes Talent haben, soviel Gelder wie möglich für die Universität zu organisieren. Dafür erhalten sie dann selbst meist ein Gehalt, das dem Gehalt von Spitzenkräften in der Wirtschaft nicht nachsteht.

Gewerkschaften, die am Anfang des 20. Jahrhunderts Streikrecht, freies Wochenende, 8- Stunden-Arbeitstag erkämpft hatten, sind heute – wo es sie noch gibt – machtlose Vertreter ihrer immer weniger werdenden Mitglieder. In einer entsolidarisierten kapitalistischen Gesellschaft genießen sie oft selbst bei jenen kaum noch Ansehen, für deren Ansprüche sie eigentlich kämpfen. Als die größte Bedrohung für Profitmaximierung werden Gewerkschaften an vielen Fronten bekämpft. Das so genannte union busting (Gewerkschaft-Zerstörung) bedient sich dabei vielerlei Taktiken: Schüren von Misstrauen gegen und Zwietracht unter den Gewerkschaftsmitgliedern, Androhung des Jobverlusts bei der heutigen hohen Arbeitslosigkeit, Gerichtsprozesse, Aussperrung, usw. Vielen Betrieben gelingt es, ihre Angestellten daran zu hindern, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Es gibt inzwischen consulting companies, die darauf spezialisiert sind, Arbeitgeber zu beraten, wie Gewerkschaften verhindert oder in ihrer Arbeit geschwächt werden können. Neuerdings dienen hohe Defizite in den Staatskassen und die Notwendigkeit der Einsparung als ein weiteres Druckmittel, die Gehälter der Angestellten im öffentlichen Dienst zu erniedrigen.

Zehntausende öffentlich Bedienstete wie Lehrer, Krankenhauspersonal, Feuerwehrleute usw. demonstrieren zur Zeit (Februar 2011) auf den Straßen in Madison, Wisconsin, wo ein neuer republikanischer Gouverneur drakonische Maßnahmen betreffs Kürzung ihrer Altersbezüge und Erhöhung ihrer Krankenversicherungs- beiträge eingeleitet hat. Was die Menschen dort zum Protest treibt, ist nicht primär die angedrohte finanzielle Belastung – in Zeiten knapper Budgets hat man für Sparmaßnahmen durchaus Verständnis. Es ist vielmehr die Tatsache, dass sich die republikanische Regierung rigoros dem collective bargaining, dem Verhandeln mit den Gewerkschaften verweigert und über deren Köpfe hinweg schwerwiegende Entscheidungen treffen will. Die sich in der Minderheit befindenden Abgeordneten der Demokratischen Parte haben sich solidarisch mit den Demonstranten erklärt, haben sich an geheime Orte im Nachbarstaat abgesetzt und verhindern so durch ihre Abwesenheit, dass über das umstrittene Gesetz wegen fehlenden Quorums nicht abgestimmt werden kann Es bleibt abzuwarten, ob es diesem Aufstand gelingt, die Ausbeutung der Mittelklasse zu bremsen. Manche erwarten, dass sich der Zorn der von den Politikern entmündigten Menschen so anstaut, dass Proteste auch in anderen Staaten ausbrechen.

Wirkliches Ansehen in dieser Gesellschaft, in einem Staat in dem das Streben nach Profit zum Lebensziel geworden ist, sind prominente Filmstars, Sportler und Multi-Milliardäre wie Bill Gates und Donald Trump. Sie werden verehrt als die Leitfiguren der Geldkultur, und ihr Erfolg spornt den „kleinen Mann“ an, auch seinen Amerikanischen Traum vom Erfolg zu träumen. Was aber sind die Chancen des „kleinen Mannes“? Bekannt ist, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer wird. Die Machtelite lässt diese Entwicklung nicht nur zu, sie fördert sie durch eine die Reichen begünstigende Steuerpolitik. Eine liberale Kraft, die sich dieser Entwicklung entgegenstemmt, ist nicht in Sicht.

Die seit der Obama-Präsidentschaft entstandene „Tea Party“ ist alles andere als eine liberale Partei, die für soziale Gerechtigkeit eintreten würde. Im Grunde ist es eine Bewegung von konservativen Patrioten, die – in bester republikanischer Tradition – gegen die Macht der Regierung und für niedrige Steuern kämpft. Sie vertritt die These, dass öffentliche Maßnahmen der Regierung grundsätzlich wirtschaftsfeindlich sind und die Ökonomie der privaten Wirtschaft überlassen werden soll. So sehen sie z. B. in der Gesundheitsreform Obamas den Versuch, mit der Einführung der Versicherungspflicht für alle, die Freiheit des Bürgers zu zerstören. Aber was kann man schon von einem Präsidenten erwarten, der nach Meinung von 51 Prozent der Republikaner nicht in den USA geboren, wahrscheinlich sogar ein heimlicher Muslim ist, also illegitim und antiamerikanisch? Und dann hat er auch noch versucht, die Steuern für Multimillionäre zu erhöhen. Solche „sozialistischen“ Umverteilungsversuche dürfen keine Chance in einem freien Amerika haben. Der „kleine Mann“ wird seinen amerikanischen Traum vom großen Erfolg trotz allem nicht aufgeben.