In seiner Autobiographie berichtet Mark Twain, dass er bei einem Geschäftsdeal übers Ohr gehauen wurde, aber, wie er weiß, nicht wegen der „Geschäftstüchtigkeit“ des Anderen, sondern wegen seiner eigenen „Geschäftsuntüchtigkeit.“ Der Andere, überzeugt von seinem überragenden Geschäftsgeist, geht mit dem Gewinn an die Wall Street, „den Kopf voll schäbiger und schillernder Träume – Träume der ‚Werde schnell reich’-Art; Träume, die sich kraft der Geschäftstüchtigkeit des Träumenden und der Geschäftsuntüchtigkeit seines Gegenübers verwirklichen lassen.“
Die Episode spielt in der Zeit des von Twain so benannten ‚Gilded Age’, also während der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in dem der nach dem Bürgerkrieg erworbene immense Reichtum der Neureichen deren Leben ‚vergoldete‘ und die sozialen Probleme verdeckte. Es war die Zeit der so genannten ‚Robber Barons.’ Ihre Kritiker, und zu ihnen gehörte Twain, gaben ihnen diesen Namen, weil sie meinten, dass diese Räuber-Barone ihren Reichtum nicht mit harter, ehrlicher Arbeit erworben, sondern auf unmoralische Weise ‚geraubt’ hatten. Nicht nur wurde damals der Grundstein für die immensen Vermögen einiger amerikanischer Familien gelegt – Namen wie Astor, Carnegie, Mellon, Morgan, Rockefeller, Vanderbilt sind noch heute bekannt -, es wurden damals auch Geschäftsstrategien angewandt, die seitdem als radikal kapitalistische Maßnahmen in Verruf geraten sind, aber bis heute noch durchaus nicht ausgestorben sind. Zu ihnen gehörte die über Regierungsbeeinflussung erreichte Kontrolle über nationale Rohstoffe, der Erwerb von Monopolen und Manipulation von Aktien zur Ausschaltung der Konkurrenz und, nicht zuletzt, die Zahlung extrem niedriger Löhne, die eine immense Ausbeutung der Arbeitskräfte bedeutete.
Für Twain war Jay Gould ein besonders gefährlicher Vertreter dieser Sorte von Kapitalisten. Gould war im Bankengeschäft tätig, wurde Besitzer mehrerer Bahngesellschaften, die er durch diverse Aktienmanipulationen ausplünderte und hinterließ nach seinem Tod (1892) ca. zweiundsiebzig Millionen Dollar. Er „war die größte Katastrophe, die je über dieses Land hereingebrochen ist. Schon vor seiner Zeit hatte das Volk Geld begehrt, er aber lehrte es, davor niederzuknien. Das Volk hatte schon vor Jay Gould Menschen mit Vermögen respektiert, mit diesem Respekt ging jedoch jener Respekt einher, der dem Charakter und Fleiß gebührt, die das Vermögen angehäuft hatten. Nun lehrte Jay Gould die gesamte Nation, Geld und Menschen zu Götzen zu machen, wie auch immer das Geld erworben worden sein mochte.“ Mark Twain, kritischer Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, wird zum Zeitzeugen eines historischen Umbruchs. In seiner Lebenszeit bricht das alte, auf ehrlicher harter Arbeit beruhende Wertesystem der Vereinigten Staaten, das seit ihrer Gründung einhundert Jahre in Kraft war, zusammen. Ein neues Wertesystem tritt an seine Stelle, verkörpert im „Evangelium, das Jay Gould hinterlassen hat. Seine Botschaft lautet: ‚Beschaff dir Geld. Beschaff’s dir schnell. Beschaff’s dir im Überfluss. Beschaff’s dir in riesigem Überfluss. Beschaff’s dir auf unehrliche Weise, wenn du kannst; auf ehrliche, wenn du musst.“ Der Zynismus dieser Ratschläge wurde von Menschen wie Gould und William Tweed, einem anderen führenden Robber Baron, in die Tat umgesetzt, indem sie im Eisenbahn- und Aktiengeschäft vor keiner Korruption zurückschreckten. Der eigentliche Skandal besteht aber nicht darin, dass einige Individuen, damals wie auch heute noch, durch unmoralische Machenschaften großen Reichtum, Einfluss und Macht erwerben. Er besteht darin, dass die Gesellschaft im Allgemeinen nur zu bereit ist, diesen Individuen eine Bewunderung zu zollen, die einer „Anbetung des Geldes oder seines Besitzers“ gleichkommt. Mit hellseherischer Voraussicht erkannte Twain: „Dieses Evangelium (des Jay Gould) hat, wie es scheint, nahezu universelle Gültigkeit.“
Kapitalismuskritik gab und gibt es seit Mark Twain zur Genüge. Dennoch hat sich ein Großteil der Welt, vor allem die USA als Vorreiter, und in ihrem Gefolge auch Europa, dafür entschieden, Kapitalismus zum zentralen Prinzip ihrer Ökonomie zu machen. Allerdings kann man feststellen, dass das Prinzip Kapitalismus in den Ländern unterschiedlich zur Anwendung kommt.
In dem Gründungsdokument der USA, der Unabhängigkeitserklärung von 1776, werden folgende „Wahrheiten“ als „self-evident“, also als selbstverständliche und offensichtliche Wahrheiten, postuliert: „dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass unter diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück sind.“ Das Gleichheitsprinzips und seine Interpretation nimmt eine zentrale Bedeutung ein. Angesichts der eklatanten Kluft zwischen arm und reich, die in den letzten Jahrzehnten die amerikanische Gesellschaft gespalten hat, lässt die Frage aufkommen, ob hier das Gleichheitsideal nicht restlos verschwunden ist. Ist diese Gesellschaft wirklich eine Gesellschaft von Gleichen? Eine Gesellschaft, in der ein Prozent der Oberschicht 35 Prozent des nationalen Vermögens besitzt, die nächsten 19 Prozent 50 Prozent. Während also 20 Prozent der Wohlhabenden 85 Prozent des Gesamtvermögens besitzen und die anderen 85 Prozent einen Anteil von nur 15 Prozent haben (Zahlen von 2007, Congressional Budget Office), fällt es schwer, von Gleichheit zu sprechen. Umso erstaunlicher ist, dass dieser Zustand von Tom Perkins, einem der unendlich Reichen, sogar provokant gerechtfertigt wird. Seiner Ansicht nach müssen die Reichen noch reicher werden, um so die Arbeitsplätze für die sozial Schwachen zu schaffen. Als Gegenleistung vom Staat fordert er mehr Macht für die Reichen durch eine neue Gesetzgebung, in der das Recht zu wählen an die Höhe der Steuer gebunden ist: „wer eine Million Steuern zahlt soll auch eine Million Stimmen bekommen.“ Von der Allgemeinheit wurde diese Forderung als spinnige Idee eines zynischen Exzentrikers belächelt. Doch darf man vermuten, dass, wenn auch nicht im Ausmaß, aber doch in der Richtung diese Forderung eine heimliche Resonanz bei seinen reichen Freunden findet. Schade, dass Mark Twain all dies nicht mehr kommentieren kann.
Dass die Ungleichheit der Vermögensverteilung nicht zu einem Aufruhr führt, liegt an einer spezifisch amerikanischen Grundüberzeugung: den höchsten Wert sieht die Nation im Ideal der Freiheit. Das Ideal der Gleichheit muss vor dem Ideal der Freiheit in den Hintergrund treten. Zwar erkennt man an, dass alle Menschen vom Schöpfer gleich geschaffen seien. Das heißt, der Ausgangspunkt sei für alle der gleiche. Aber das bedeute nicht, dass alle gleich blieben. Menschen seien Individuen mit unterschiedlichen Charakteren, Befähigungen und Motivationen. Was sie aus diesen Eigenschaften machten, sei ihre ganz persönliche Verantwortung. Erfolg oder Misserfolg sei das Resultat der persönlichen Lebensgestaltung. Staat oder Gesellschaft würden dabei nicht zur Verantwortung gezogen. Das Einzige, was vom Staat erwartet wird, sei, dass er die Freiheit garantiere und schütze, die es dem Individuum ermöglicht, seinen ‚amerikanischen Traum’, sein Glück ungehindert zu erstreben. Dies, so die amerikanische Überzeugung, sei nur möglich in einem ungehemmten freien Markt.
Seit Jahren, besonders seit dem Amtsantritt Barak Obamas, hat sich allerdings eine Stimmung des Unbehagens an den bestehenden Verhältnissen entwickelt. Die Tatsache, dass die Vermögen der Oberklasse astronomisch gewachsen sind, und die finanzielle Situation der Mittelklasse trotz vermehrter Anstrengung sich überhaupt nicht verbessert hat, ist nur allzu sichtbar und spürbar geworden. Vizepräsident Joe Biden illustrierte dies an seiner persönlichen Erfahrung. Als er 1972 in den Senat gewählt wurde, habe ein CEO etwa 25-mal mehr als der niedrigst bezahlte Angestellte verdient. Heute verdiene er 240-mal mehr. Beklagt wird auch, dass Korporationen vom Staat Steuervergünstigungen bekommen, ihre Priorität aber der auf Kosten der Angestellten gehende Profit der Aktionäre sei.
Präsident Obama hat die Schieflage klar erkannt. Er versäumt keine Gelegenheit, die inequity, die eklatante Ungleichheit der Vermögensverteilung, anzuprangern. Seine Gegner, die Republikaner, werfen ihm deswegen vor, den Klassenkampf, ein total unamerikanisches Phänomen, zu schüren und sozialistische Tendenzen zu verfolgen. Zu den ‚sozialistischen’ Maßnahmen, für die Obama und seine Demokratische Partei kämpfen, gehören z.B. die Erhöhung des staatlichen Mindestlohns von 7.25 Dollar auf 10.10 Dollar. Außerdem fordert er gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit und damit auch die Gleichstellung von Frauen- und Männerarbeit. Sein größtes Projekt war die Einführung der allgemeinen Krankenversicherungspflicht. Sie ist und bleibt umstritten, zumal es viele technische Probleme bei den Antragstellungen gab, und wird sicherlich bei den kommenden Wahlen als Waffe von den Republikanern benutzt werden.
Das amerikanische Credo ‚Jeder ist auf sich allein gestellt, ist selbst verantwortlich durch Fleiß und harte Arbeit seinen Traum vom Glück zu realisieren’ lebt noch immer. Aber angesichts der heutigen Verhältnisse haben sich Zweifel eingeschlichen. Harte Arbeit allein führt eben nicht mehr zum Erfolg. Immer mehr setzt sich der Eindruck durch, dass im Zeitalter der neuen Technologien und global operierenden Korporationen der Einzelne es nicht mehr vermag, wie in früheren Zeiten sich allein durch Fleiß und Intelligenz hochzuarbeiten. Die Gegenbeweise sind übermächtig. Es bleibt die Frage, ob sich aus dieser Situation heraus nicht der Gedanke an Solidarität entstehen sollte, geboren aus der Erkenntnis, dass nur in der Gemeinschaft mit anderen Rechte für den Einzelnen erkämpft werden können.
Der deutsche Volkswagenkonzern gab im Februar 2014 seinen Betriebsangehörigen im Werk in Chattanooga, Tennessee, die Chance, sich gewerkschaftlich zu organisieren und das deutsche Modell von Betriebsrat und Mitbestimmung zu realisieren. Den Anstrengungen und Intrigen der vereinigten republikanischen Kräfte von Gouverneur, Senator und Bürgermeister gelang es, die Arbeiter mit unwahren Ankündigungen zu erschrecken. Falls sie sich für die Gründung der Gewerkschaft entschieden, würde VW ein geplantes Modell statt in Chattanooga in Mexico bauen – was von VW dementiert wurde. Außerdem drohten sie mit dem Entzug von gewissen staatlichen Vergünstigungen für das VW-Werk. Das Wahlergebnis fiel entsprechend aus. Die Mehrheit entschied sich gegen die Einführung einer Gewerkschaft.
Man muss vermuten: es wird noch eine Weile dauern bis die amerikanische Gesellschaft sich an eine solidarischere Arbeitswelt gewöhnen wird.
Übrigens: Twain traf nach fünfunddreißig Jahren den Mann wieder, bei dem er geschäftlich den Kürzeren gezogen hatte und der mit seinem Gewinn an die Wallstreet ging. Er begegnete ihm auf dem Broadway, wo er als „abgerissener und zerlumpter Stadtstreicher“ sich fünfundzwanzig Cent von Twain lieh. „Vermutlich, um sich ein paar Schnäpse zu kaufen.“