Versionen des ‚amerikanischen Traums’

Der amerikanische Traum – das ist das Schlagwort, dessen Verführungskraft seit Bestehen der USA Millionen Menschen erlegen sind, die voller Hoffnung auf ein neues Leben, Not und Armut ihrer Heimat hinter sich lassend, in die neue Welt einwanderten. Einigen gelang es, durch Intelligenz und Fleiß, oft auch durch Skrupellosigkeit, wirklich reich zu werden. Die meisten aber schafften es, sich und ihren Familien durch harte Arbeit, Sparsamkeit und Ausdauer ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen. Aus ihnen rekrutierte sich die amerikanische Mittelklasse des 20. Jahrhunderts mit ihrer typischen Familie: Vater, Mutter und zwei Kinder im eigenen Haus mit einer Garage, in der Vorstadt wohnend, Vater berufstätig, Mutter später häufig teil- oder vollzeitbeschäftigt, um den Lebensstandard zu erhöhen, etwa um ein größeres Haus mit einer zweiten Garage zu ermöglichen. Ab Geburt der Kinder wird für deren spätere Ausbildung gespart, denn die Kinder sollen später einmal aufs College gehen. Immer schwieriger wurde es schon vor Jahren, den Bedingungen des gehobenen Lebensstandards zu genügen. Heute ist es noch schwieriger geworden, für viele sogar unmöglich.

Die Entwicklung der Wirtschaft hat Amerika seit einem seit etwa drei Jahrzehnten andauernden Prozess an einen Wendepunkt seiner Geschichte geführt. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch den Triumph der New Economy in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Milton Friedman, wurde zum Vater dieser neuen Ökonomie, indem er das Laissez-faire-Prinzip propagierte und sich gegen die Anwendung aller die Wirtschaft beschränkenden Maßnahmen durch die Politik (Deregulierung) und für Steuererniedrigungen und globalen Freihandel aussprach. Widerstand seitens der Politik war gering, so dass die Wirtschaftsbosse ohne alle soziale und moralische Kontrolle ihr wichtigstes Ziel verfolgen konnten, nämlich die skrupellose Profitmaximierung zugunsten von Aktionären (shareholder value) und Vorstandsvorsitzenden. In der Folge dieser Entwicklung erhöhte sich die Zahl der Armen drastisch, insofern der untere Teil der Mittelklasse in die Armut absank und der andere Teil sich in seiner Existenz bedroht sah. Diese von der Politik nicht nur geduldete, sondern geförderte Wirtschaft begünstigte die Reichen und verstärkte ihre politische Macht, während sie den durchschnittlichen Arbeiter ökonomisch und politisch entmachtete. Es zeigt sich heute, dass die globale Wirtschaft gescheitert ist mit ihrem Versprechen, Güter für eine expandierende Gesellschaft effizient zu produzieren und zu liefern. Konzerne erkannten, dass ihre Produkte im Ausland billiger hergestellt werden konnten und schickten die einheimischen Arbeiter in die Arbeitslosigkeit. Der Kollaps von Lehman Brothers und die Kettenreaktion, die er auslöste, offenbarten die Krise. Die Blase des Häuserbooms platzte, der Wert der Häuser sank unter den Betrag der vom Besitzer zu zahlenden Hypotheken. Viele verloren nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Jobs und vergrößerten die Masse der Arbeitslosen und Armen. Der „American way of life“, der früher auf einer gewissen demokratisch ausgewogenen Verteilung des nationalen Wohlstands auf die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen beruhte und Antrieb für unternehmerische Initiativen war, ist der neuen Ökonomie zum Opfer gefallen. Nicht länger mehr gilt das traditionelle Motto und Credo der Mittelklasse: „Uns geht es gut, aber unseren Kindern soll es einmal noch besser gehen.“ Zum ersten Mal in der Geschichte Amerikas gibt es heute eine Elterngeneration, die schwarz sieht für die Zukunft ihrer Kinder und die nicht mehr glaubt, dass es denen besser gehen wird. Amerika, von astronomisch hohen Schulden an den ökonomischen Abgrund getrieben, von einer großen Zahl illegaler Immigranten und Arbeitslosen belastet, die meist ohne Krankenversicherung sind und wählen müssen, ob sie ihre Arbeitslosenunterstützung für Medizin oder Lebensmittel ausgeben sollen, ist ein Land geworden, in dem die reale Erfüllung des ‚American Dream’ etwa so groß ist, wie die Chance, in der Lotterie das große Los zu gewinnen. Das bedeutet, zumindest auf längere Frist, das Ende dieses besonderen amerikanischen Traums, des Traums von Wohlstand und Reichtum.

Allerdings gibt es auch einen ganz anderen amerikanischen Traum, zumindest eine ganz andere Interpretation, die den Traum nicht ausschließlich auf seine materielle Komponente reduziert. Schlüsselwörter für die Deutung dieses Traums liefert die amerikanische Geschichte. In einer Predigt, die John Winthrop, der Anführer der puritanischen Kolonisten 1630 seinen Mitreisenden noch vor der Landung in der Massachusetts Bay hielt, beschrieb er die Bedeutung, die ihre Kolonie haben sollte. Sie sollte „Ein Modell christlicher Nächstenliebe“ werden. So der Titel der Predigt. In ihr ermahnte er seine Glaubensbrüder, dass ihre Kolonie eine Stadt auf einem Hügel sei, die von der ganzen Welt beobachtet würde („a city upon a Hill, the eies of all the people are uppon us“). Die puritanische Kolonie verstand sich als eine Gemeinschaft, deren Gesetze auf der Bibel und deren moralischen Werten basierte. Winthrop glaubte, dass christliche Nächstenliebe ein Leben ermöglichte, in dem die Interessen des Einzelnen mit den Interessen des Staates vereint seien. Dies der Welt zu beweisen sei der Auftrag der puritanischen Kolonie. Die „Stadt auf dem Hügel“ ist ein der Bergpredigt entnommenes Gleichnis und stellt mit seinem Anspruch auf Vorbildcharakter schon damals die Konnotation des Religiösen mit dem Politischen her, die für das spätere Amerika so charakteristisch werden sollte. So bezog sich John F. Kennedy in einer Rede von 1961 auf Winthrop und verglich Amerika mit der Stadt auf einem Hügel, auf die die Welt schaut. Der andere Präsident, der nicht müde wurde die heroische Vergangenheit Amerikas zu beschwören, Ronald Reagan, sprach sowohl in seiner Antritts- als auch in seiner Abschiedsrede von der „leuchtenden Stadt“ – „ eine große stolze Stadt, auf Felsen gebaut… von Gott gesegnet, von Menschen aller Art bewohnt, die in Harmonie und Frieden leben, mit offenen Häfen, die erfüllt sind mit Handel und Kreativität, und wenn die Stadt Mauern hätte, wären diese Türen offen für jeden mit dem Willen und Herzen hier einzutreten“ (Farewell Address to the Nation, 11. 01.1989). Abraham Lincoln prägte am 01.12.1862, einen Monat vor der Emanzipationserklärung in einer Botschaft an den Kongress ein anderes Schlüsselwort, das sich leitmotivisch durch die amerikanische Geschichte zieht und das das amerikanische Selbstverständnis auch als Verpflichtung definiert: „In giving freedom to the slave, we preserve freedom for the free, honorable alike in what we give and what we preserve. We shall nobly save or meanly lose, the last best hope of earth.“ Wenn die Beibehaltung der Union von Nord- und Südstaaten und die Sklavenbefreiung gelingt, dann – so verspricht Lincoln – „wird die Welt für immer applaudieren und Gott wird (uns) für immer segnen.“ Auch spätere Präsidenten haben bei Eingriffen in internationalen Konflikten es deswegen immer für nötig befunden, vor der Welt und vor der eigenen Bürgerschaft sie als Erfüllung einer nationalen moralischen Pflicht zu definieren. Den unterdrückten Menschen in aller Welt bringe Amerika – völlig selbstlos – Freiheit und Demokratie und möchte gesehen werden als “letzte beste Hoffnung“ der Welt.

Der Exzeptionalismus, der Sonderstatus Amerikas unter allen Nationen kommt auch zum Ausdruck im „Manifest Destiny“, das Mitte des 19.Jahrhundert proklamierte, Expansion sei Amerikas gottgewollte Bestimmung. Damals ging es um die Rechtfertigung der Inbesitznahme des westlichen Kontinents. Heute erklärt sich daraus der Hang Amerikas, seine Einflusssphäre in Form des Kommerziellen und Militärischen über die ganze Welt auszudehnen, um seinen Auftrag auszuführen, Demokratie mit Frieden und Freiheit für alle Menschen zu schaffen. Die puritanische Vision Winthrops für Amerika wurde zum kollektiven Traum der Nation, wurde zum amerikanischen Traum schlechthin. Dieser Traum lebt auch heute noch, allerdings nur in einem begrenzten Teil der Bevölkerung. Er lebt bei christlichen Fundamentalisten, Evangelikalen, im rechtsextremen Flügel der republikanischen Partei und bei Anhängern der Tea Party. Alle diese Gruppen vereint die Überzeugung, dass Amerika vom Weg abgekommen sei, dass es nicht mehr eine gottesfürchtige Nation sei. Der Säkularismus habe Gott aus den Schulen, aus der Politik, aus den Medien und aus dem ganzen öffentlichen Leben verdrängt. Das Resultat sei der allgemeine moralische Werteverfall, wie er sich in den Ehescheidungen, Abtreibungen, homosexuellen Partnerschaften usw. dokumentiere. Dieses moderne gottlose Amerika könne kein Vorbild mehr für die Welt sein. Die Kritiker des modernen Amerikas und seiner gottlosen Sündhaftigkeit kämpfen für die Rückkehr zum alten vorbild- und tugendhaften Amerika. Allerdings vergessen sie dabei die größten Sünden der Vergangenheit: Indianervernichtung und Sklaverei. So zweifeln sie auch nicht an der Rechtmäßigkeit des einen oder anderen von Amerika geführten Krieges oder der ungerechten Verteilung von Wohlstand in der Gesellschaft. Stattdessen richtet sich ihr ganzer Zorn gegen die Politik der demokratischen Partei und den demokratischen Präsidenten Obama. Diesere, auf die Frage eines Journalisten, antwortete: „Ich glaube an amerikanischen Exzeptionalismus, genauso wie ich vermute, dass die Briten an britischen Exzeptionalismus glauben und die Griechen an griechischen.“ Er fügte hinzu, dass er sehr wohl an eine Führungsrolle Amerikas in der Welt glaube in der Förderung von Frieden und Wohlstand, aber eine Führungsrolle, die auf der Schaffung von Partnerschaften beruhe, weil nur so die Probleme gelöst werden könnten. Eine Antwort, die sein Gegenkandidat, der republikanische Mitt Romney, als „unamerikanisch“ charakterisierte. Trotzdem hat der überwiegende Teil der Amerikaner nicht den guten Amerikaner Romney, sondern den „unamerikanischen“ Obama zum Präsidenten gewählt.

Dieser Wahlausgang gibt Grund zur Annahme, dass Amerika nicht nur ökonomisch an einem Wendepunkt angekommen ist, sondern dass sich auch in seinem kollektiven Selbstbewusstsein etwas geändert hat. Die Großmacht Amerika ist bescheidener geworden, zurückhaltender in der Bevormundung anderer Staaten, kritischer gegenüber der eigenen Geschichte. Man gesteht gravierende Verfehlungen ein. Ungerechtfertigte Kriege, Rassismus, Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Geldgier sind als Motive für gesellschaftliche Fehlentwicklungen entlarvt worden. Damit ist selbst für viele Amerikaner Zweifel entstanden an der Überzeugung, dass Amerika ein moralisches Vorbild für die Welt sei. Obama verdankte seinen Wahlsieg vor allem den Stimmen von Latinos und Schwarzen, d.h. den beiden Bevölkerungsgruppen, die ständig wachsen und laut demoskopischer Berechnung 2043 die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung bilden. Diese Entwicklung hat weit reichende soziale und politische Folgen für die Gesellschaft, die Beziehung der Rassen zueinander, die Gesetze zum Schutz von Minderheiten usw. Diese Entwicklung wird die demokratische Partei begünstigen und damit liberaleren Auffassungen und Gesetzesinitiativen den Weg ebnen. Die heutige Generation der Amerikaner ahnt den bevorstehenden Wandel der Gesellschaft. Die einen sehen darin den Untergang des alten Amerika, die anderen die Chancen für einen Neubeginn. Aber beide Gruppen ahnen auch, dass der amerikanische Traum vom nationalen Sendungsbewusstsein heute nicht mehr wirksam und für viele nicht mehr glaubhaft ist.

Im 20. Jahrhundert haben die USA den Status einer Supermacht gewonnen. Sie haben die internationale Führungsrolle übernommen im ökonomischen, technologischen und militärischen Bereich. Damals hatten sie noch die Macht der Einflussnahme auf andere Länder, in denen sie die Demokratie einführen wollten. Die Welt musste das hinnehmen, einige Nationen mit offener oder unterdrückter Wut, andere mit Freude und Dankbarkeit. Das Ende des West-Ost-Konflikts und die daraus resultierende relative Entspannung der Weltlage haben dazu geführt, dass eine kritische, zuweilen antiamerikanische Haltung auch in westlichen Ländern entstanden ist. Die Gründe dafür sind vielfältig. In Europa überlagern sich Dankbarkeit des Schwächeren für mannigfaltige Hilfen in Not mit Ressentiments gegen Bevormundung bei anderen Gelegenheiten durch den mächtigen Übervater Amerika. Hinzu kommt, dass europäische und asiatische Wirtschaften im Wettbewerb mit den USA in den letzten Jahrzehnten immer erfolgreicher wurden, was das Selbstbewusstsein dieser Länder stärkte, während es das Selbstbewusstsein der USA verunsicherte. Der wichtigste Grund jedoch, warum Amerika seinen Nimbus verloren hat, ist die Erkenntnis, dass Amerika aus europäischer Sicht als Experiment und Modell gescheitert ist. Amerika hat nicht verwirklicht, was man von ihm erhoffte, nämlich eine ideale Gesellschaft in einer Neuen Welt.

Als Neue Welt war Amerika im Anfang ein Faszinosum für Europäer, weil es eine Idee verkörperte, die in ihrem eigenen, im europäischen Geistesleben entstanden war, aber nie erfolgreich realisiert wurde. Amerika als Experiment der Aufklärung versprach ein in der göttlichen Natur begründetes Leben in Freiheit, Gleichheit mit dem Recht auf Glück. Für Europa verkörperte Amerika die Vision eines neuen menschheitsgeschichtlichen Anfangs. Der Traum von einer idealen menschlichen Gesellschaft in einem idealen Staat ist so alt wie die europäische Geschichte. Von Platons Atlantis, dem fabelhaften, im Westen gelegenen Inselreich über Thomas More’s Utopia bis zur Aufklärung lebte die Vision einer bislang nicht verwirklichten vollkommenen Gesellschaft. Staats- und gesellschaftsphilosophische Theorien von John Locke und Thomas Paine fanden Eingang in die wichtigsten Dokumente Amerikas – die Unabhängigkeitserklärung und Verfassung. Es war eine europäische Hoffnung, dass sich mit Amerika der alte Traum einer idealen Gesellschaft erfüllen würde. Eine Weile wenigstens glaubten das die Europäer. Der Franzose Jean de Crèveceur lebte vor dem Unabhängigkeitskrieg gegen England einige Jahre als Farmer im späteren Staat New York. Seine „Briefe eines amerikanischen Farmers“ (1784/87) beschrieben das Leben des im Grenzland zwischen Zivilisation und Wildnis lebenden amerikanischen Pioniers und zeichneten das Bild eines für Europa neuen Menschenbilds. Crèveceur zeigte, wie die von ihrer Situation und ihren Aufgaben geprägte junge Gesellschaft Regeln und Prinzipien entwickelte, die notwendig waren für das Leben, die Arbeit und das Miteinander der Menschen. Die Prinzipien waren individuelle Selbstbestimmung, Einfallsreichtum und Fleiß bei der Nutzung der für alle schwierigen, aber gleichen Gelegenheiten, Integration in eine Gesellschaft von Menschen, die von kultureller und ethnischer Herkunft völlig unterschiedlich waren und das Fehlen von den in Europa üblichen Standesunterschieden. Jeder in dieser neuen Gesellschaft war seines eigenen Glücks Schmied, hatte er Erfolg, so hatte er seinen amerikanischen Traum erreicht. Crèveceurs Briefe erschienen in französischer, englischer, deutscher und holländischer Sprache, machten ihn berühmt und warben in ganz Europa für das neue, in Amerika entstandene Lebensgefühl. Auch ein anderer Franzose trug wesentlich zum europäischen Amerikabild bei. Alexis de Tocqueville bereiste Amerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In „Über die Demokratie in Amerika“(1835) berichtet er über den Bürgersinn der Amerikaner, der bestimmt war von vielen Tugenden der puritanischen Einwanderer: Individualismus, Eigeninitiative, Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft und die Bereitschaft, sich für sie einzusetzen. Alle diese Elemente hätten den Bürgersinn erzeugt, der Voraussetzung gewesen sei für die demokratische Gestaltung des Staates. Obwohl Tocqeville auch Gefahren der Demokratie sah, war es dennoch seine Absicht, die amerikanische Demokratie mit ihrer Verfassung als ein Vorbild für Europa darzustellen. Der alte Goethe verglich 1827 in einem Gedicht (Zahme Xenien) Amerika mit Europa und kam zu dem Ergebnis „Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte …“ Der neue Kontinent hatte den Vorzug, nicht unter der Bürde der Vergangenheit zu leiden, hatte keine „verfallenen Schlösser“ und litt nicht unter „unnützem Erinnern und vergeblichem Streit.“ Daher Goethes Rat an die Amerikaner: „Benutzt die Gegenwart mit Glück!“ Er sah Amerika im Stadium der Jugend, quasi unschuldig noch, weil nicht korrumpiert durch die Sünden einer dunklen Vergangenheit und daher in der Lage, unbelastet seine Gegenwart zu gestalten.

Diese europäischen Perspektiven zeigen das Bild des Amerikaners in einem durchaus positiven Licht. Eigenschaften werden in ihm entdeckt, die ihn vom Europäer unterschieden. Entwickeln konnte sie der Amerikaner, weil er in dem neuen Land allein auf sich gestellt war, oder aber in einer überblickbaren kleinen Gemeinschaft lebte, deren Mitglieder ein gemeinsames Ziel vereinte, nämlich unter schwierigen Bedingungen eine Existenz aufzubauen. Allerdings ergibt sich daraus ein Problem für das moderne Amerika. Was einmal sinnvoll war, erscheint in der heutigen, verwalteten Massengesellschaft oft als anachronistisch. Sehr deutlich wird dies z.B. am Thema Waffenbesitz. War es damals selbstverständlich und auch nötig, dass der Pionier eine Waffe hatte, ist es in der heutigen Situation schwer zu verstehen, dass sich der überwiegende Teil der Amerikaner noch immer mit Waffen versorgt und sich dabei auf das von der Verfassung garantierte Recht beruft. Die Bereitschaft, sich mit Gewalt sein vermeintliches oder tatsächliches Recht gewaltsam zu erkämpfen, hat dazu geführt, dass Gewalt ein durchgängiges Element der amerikanischen Kultur ist. Nicht zufällig hat die Anwendung brutaler Gewalt, selbst im Spiel, Football zum populärsten Sport Amerikas gemacht. Daher ist es nicht überraschend, dass heutige Europäer, anders als ihre Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert, häufig mehr Schwächen als Stärken am Amerikaner entdecken und weit davon entfernt sind, Amerika als Vorbild für die Welt zu sehen. Freiheit von der Vergangenheit und die damit verbundene Illusion der Unschuld, der Sündlosigkeit, evozieren die Gestalt eines ‚amerikanischen Adams’, der noch keinen Sündenfall hinter sich hat. Im moralischen Vokabular des Dichters und Philosophen Ralph Waldo Emersons spielen eine angeborene Sündhaftigkeit des Menschen keine Rolle, dagegen steht ’Unschuld’ im Mittelpunkt des neuen Menschenbilds. Möglich ist diese neue Bestimmung nur unter Ablehnung und Zurückweisung der Tradition, das heißt der Kultur Europas. Nicht zufällig wird in jener Zeit die Monroe-Doktrin erlassen, die europäischen Versuchen jeglicher Einfluss- oder Landnahme auf den amerikanischen Kontinenten eine scharfe Absage erteilt. Die Trennung von Europa wurde kollektiv von der Nation und individuell vom Einzelnen vollzogen. Sie produzierte eine Persönlichkeit, die emanzipiert war von Ahnen, Familienverpflichtungen und Ständegesellschaft, die heroisch allein auf sich gestellt ihr Leben gestaltete.

Crèveceur, Tocqueville und Goethe entwarfen das Idealbild von Amerika, und es entsprach zunächst – und für viele auch noch in späterer Zeit – ganz dem Traumbild, das Amerika von sich selbst hatte. Es waren amerikanische Schriftsteller wie Hawthorne und Melville, die – obgleich zur gleichen Zeit wie Emerson – in ihren Werken ein völlig anderes Bild vom Menschen zeichneten. Ihre Protagonisten schauen nicht hoffnungsfroh in die Zukunft, sondern leben verstrickt in Schuld und Tragik. Ein neuer amerikanischer Adam war aufgetreten – ein Adam, der diesmal seinen Sündenfall hinter sich hatte und daran litt. Seitdem war er die dominierende Figur in der anspruchsvolleren Literatur. Im 20. Jahrhundert war es vor allem Faulkner, dessen Figuren verstrickt sind in die Sündhaftigkeit der Sklaverei und Fitzgerald, der den Glanz des Reichtums als den sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft korrumpierenden Faktor darstellt. Zumindest das literarische Amerika hatte entdeckt, dass Leugnung der Vergangenheit, sei es individuell im Leben des Einzelnen oder kollektiv im Leben der Nation, nicht möglich ist, dass dieser amerikanische Traum ein falscher Traum war. Was also ist mit dem amerikanischen Traum passiert? Lebt er noch? Bei besitzlosen Menschen, die in einem Nebel von Naivität, Realitätsferne und Wundergläubigkeit leben, wird die Hoffnung auf ‚Glück’ – sprich materiellen Wohlstand – nicht sterben, egal ob sie arbeitslos sind oder für einen Minimallohn arbeiten müssen. Bei realistischen Angehörigen der Mittelklasse wird nicht mehr der Traum vom künftigen größeren Reichtum geträumt, sondern die Sorge gespürt, den erreichten Wohlstand zu verlieren. Was die Reichen angeht, so haben sie es nicht nötig, den Traum zu träumen, denn für sie ist sein Inhalt längst Wirklichkeit. Wie steht es um den Traum der geistigen Elite, den Traum von einer neuen Welt, einem neuen Menschen, einer idealen Gesellschaft im Sinne der uralten mythischen Utopie? Dieser Traum wird niemals sterben. Er wird allerdings kein spezifisch amerikanischer Traum mehr sein. Er wird weiterleben als eine auf eine unbestimmte Zukunft projizierte Hoffnung, die der gesamten Menschheit gehört.

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