Die Insel ist die größte der zehntausend Inseln im Südwesten Floridas, im Golf von Mexiko gelegen und über zwei Brücken mit dem Festland verbunden. Nördlich von ihr liegt die Stadt Naples, und östlich erstreckt sich das riesige Naturschutzgebiet der Everglades. Unter den Bewohnern von Naples findet man die reichsten Bürger der USA und in den Everglades wimmelt es von Alligatoren. Touristen geraten beim Anblick der schneeweißen Strände ins Schwärmen
In der Nacht zum ersten Sonntag im November wird in den ganzen USA die Uhr eine Stunde zurückgestellt. Jetzt währt die Nacht eine Stunde länger, es beginnt die Winterzeit. Winter allerdings gibt es nicht auf dieser Insel, denn von Oktober bis April lässt die Natur Bäume, Büsche und Blumen blühen – wenigstes da, wo man sie lässt -, als herrsche ewiger Frühling. Am Tag gibt es Zeit mehr als genug. Das liegt daran, dass nicht allzu viel Substanzielles geschieht. Zeit, gemessen in Jahren, ist allerdings etwas knapp für die Inselbewohner. Sie haben die meisten Jahre hinter sich und nicht mehr allzu viele vor sich. Hierher kommen nämlich vorwiegend „Senior Citizens“, Senioren, die den kalten Monaten im Norden für immer oder vorübergehend entfliehen und die noch verbleibenden Jahre im Frühling verbringen wollen. Bedingung ist, dass sie sich die Insel leisten können, denn es ist einer der teuersten Orte der USA. Aber wer sein Leben lang mit Arbeit, Glück oder Skrupellosigkeit einen Haufen Geld gemacht hat, hat sich den Frühling auf der Insel verdient.
Wie gesagt: Die Insel ist bevölkert mit alten Leuten – das heißt nicht mit Leuten, die alt aussehen, sondern im Gegenteil mit alten Leuten, die sich anstrengen, nicht alt auszusehen und die alles dafür tun, jünger auszusehen als sie sind. Damen zwängen ihre üppigen Hüften und Oberschenkel in knappe Shorts und lassen sich von Herren mit sportlichen T-Shirts über dicken Bäuchen zum Shopping begleiten. Wenn sie ganz ausgelassen und subtropisch gestimmt sein wollen, tragen sie hin und wieder auch lustige oder andere abenteuerliche Hüte.
Um bei der Wahrheit zu bleiben – es gibt auch eine andere Gruppe von Inselbewohnern. Ihre Mitglieder legen noch Wert auf ein gepflegtes Äußeres und bemühen sich eine gewisse physische Attraktivität zu bewahren. Diese Kämpfernaturen, die nicht aufgeben wollen, sieht man am frühen Morgen und am Abend die Straßen entlang joggen oder walken, und wer weiß, vielleicht gelingt es ihnen ja dadurch, ihre Lebenszeit um ein paar Monate zu verlängern.
Wie verbringen die alten Boys und Girls ihre Tage, wie vertreiben sie sich die ihnen verbliebene Zeit? Shopping ist eine Hauptbeschäftigung während des Tages. Die Tageszeitung ist voller Anzeigen mit einmalig günstigen Angeboten, denen man nachjagen kann. Vor dem Dollarstore parken die Cadillacs, während ihre Besitzer sich im Laden das Körbchen mit Ein-Dollar-Produkten füllen. Millionäre haben gelernt, den Wert des Geldes zu schätzen. Sonst wären sie nicht Millionäre geworden. Natürlich ist auch hin und wieder ein Abendkleidchen für die Gemahlin fällig, wofür man in einer der exklusiven Boutiquen gern mal die Kreditkarte mit einem vierstelligen Betrag belastet.
Obwohl die meiste Zeit lässige sommerliche Kleidung an der Tagesordnung ist, gibt es hin und wieder Gelegenheit elegant aufzutreten. Wenn etwa zum Dinner mit Empfang anlässlich des Besuchs eines prominenten Mitglieds der Konservativen Partei eingeladen wird – ein Ereignis von höchster Bedeutung für die konservativen Gesinnungsgenossen. Auf der Insel ist man nicht nur reich und alt, man ist auch konservativ. Die Konservative Partei erhält bei Wahlen regelmäßig 99 Prozent aller Stimmen.
Über Architektur auf der Insel braucht man nicht viele Worte zu verlieren. Standardisierte Gleichförmigkeit herrscht vor. Aus den Gründerjahren der Insel, also den sechziger, stehen noch einige im einfachen Bungalowstil erbaute Exemplare. Die in den letzten Jahrzehnten erbauten einstöckigen Häuser gleichen sich – abgesehen von ein paar Verzierungen an der Fassade – fast alle wie ein Ei dem andern: eine das Haus dominierende Garage für zwei Autos, innen ein großes Wohn/Esszimmer und Küche, ein großes und zwei kleinere Schlafzimmer und zwei Bäder. Auch äußerlich sehen sie sich alle ähnlich. In den letzten Jahren tauchen immer häufiger mehrstöckige Häuser auf. Teuer sind sie, aber wenn schon das Grundstück so klein ist, so sagt ein Besitzer, soll wenigstens ein Riesenhaus darauf stehen. „Mac Castle“, „Mac Bunker“, nennen selbst einige Inselbewohner diese Häuser leise, denn laute Kritik möchte man nicht hören. Auch hier muss man bei der Wahrheit bleiben. Während bisher die Rede war von den Häusern der Millionäre, muss auch gesagt werden, dass es einen Teil der Insel gibt, das sogenannte „Estate“-Viertel, wo auf großen Grundstücken große Häuser stehen, von denen einige von außen wirklich ansehnlich sind. Es sind dies die Villen der Milliardäre, die es sich leisten können, ihre Häuser weit weg von der Straße zu stellen und damit die neugierigen Blicke der Passanten verhindern.
Der Großteil der Tage ist für die Bewohner gefüllt mit volkstümlichen Festen und Belustigungen, die alle unter dem Motto stehen: Food and Fun, Essen und Spaß haben. Restaurants überbieten sich mit – wie sie sie nennen – Gourmet-Gerichten und locken mit zwei Cocktails für den Preis von einem am späten Nachmittag. „Happy Hour“ heißt das. Bierbrauer laden ein zum Testen neu erfundener Biersorten. Zu wohltätigen Zwecken verkauft die jüdische Gemeinde „Gefilte Fisch“ und andere Speisen. Unzählige Clubs wie Rotary, Kiwanis, Knights of Columbus, Kunstverein etc. existieren, um unausgefüllten Mitgliedern die Tage zu verkürzen. Als Volontäre praktizieren sie Wohltätigkeit, wie etwa Hamburger grillen und Suppen kochen. Der Verkaufsertrag wird, wie am nächsten Tag in der Zeitung steht, wohltätigen Zwecken zugeführt. Solche Veranstaltungen zur Sammlung von Geld für wohltätige Zwecke sind an der Tagesordnung, aber fast immer verbunden mit „Essen und Spaß“. Es muss ein herrliches Gefühl in den Erfolgreichen und Glücklichen erzeugen, Essen und Spaß zu haben und damit zugleich etwas Gutes zu tun für die Armen in der Welt oder der Nachbarschaft, jedenfalls für die „less fortunate“, die Glücklosen im Lebenskampf.
Die Holidays, gemeint sind die Weihnachtsfeiertage (Plural! – obwohl es nur einen gibt), sind ein die Öffentlichkeit und die Werbung beherrschendes Thema von November (Thanksgiving) bis Dezember. Da die üblichen Weihnachtsattribute wie Schnee und Eis fehlen, weiß man sich zu helfen: Das Fest wird im „Insel-Stil“ gefeiert. Dazu gehört die jährliche Christmas Parade, der Weihnachtsumzug, der zu den Höhepunkten der wenigen Ereignisse auf der Insel zählt. Die Zeitung schreibt: „Der Weihnachtsumzug im Inselstil war wieder spektakulär, mit so vielen Menschen, die sich an der Musik, dem Lachen, den Kostümen und den Lichtern erfreuten. Was für eine wundervolle Weise, die Weihnachtssaison einzuläuten. Die Straßen waren gefüllt mit erregten Gruppen von Menschen, die sich für den Umzug passend gekleidet hatten und überall feierten.“
Die Weihnachtkleidung besteht meist in einer stimmungsfördernden roten Mütze, oder einer Mütze mit Rentiergeweih, in Erinnerung an den Nikolaus, der im von Rentieren gezogenen Schlitten kommt. Diese fröhliche Kleidung müssen oder dürfen Angestellte in den Geschäften zwei Monate lang tragen, um auch die Kunden in weihnachtliche Stimmung zu versetzen.
Ab zehn Uhr abends sind die Straßen wie ausgestorben. Müde vom Shopping, Essen und Spaßhaben legt die Insel sich zur Ruhe. Man ist ja schließlich keine 30 mehr.
Arme Leute sieht man nur tagsüber. Es sind Mexikaner und andere südländische Eindringlinge, die für den Service zuständig sind, das heißt für alle Arbeiten, die körperliche Anstrengung erfordern und nötig sind, um die Insel sauber und adrett zu erhalten. Vor allem sind sie zuständig für die Bekämpfung der Vegetation. Die Natur meint es gut mit der Insel und würde alles üppig wachsen lassen, wenn man sie ließe. Das aber geht gegen den Schönheitssinn der Inselbewohner. Deswegen brauchen sie die Mexikaner, die alles, was wächst – d.h. Büsche Bäume und Gras – auf ein Mindestmaß zurückzuschneiden müssen. Laubbäume gibt es kaum. Ihre öfter abfallenden Blätter würden verunreinigend wirken. Die zwei bis drei Palmen pro Grundstück werden mindestens alle zwei Jahre um den Großteil ihrer Blätter beraubt, so dass die fünf überlebenden Blätter wie ein abgenutzter Pinsel in den Himmel ragen. Gras gibt es nur in Form von Rasen, der jedes Haus umgibt. Einmal wöchentlich wird er auf eine Höhe von zwei Zentimetern rasiert und konkurriert mit Kunstrasen, der inzwischen auch erlaubt ist und für viele fast noch schöner ist als richtiger Rasen. Wer weiß – vielleicht erlaubt die Stadtverwaltung demnächst auch die Aufstellung künstlicher Palmen. Es würde das Bild der Insel vervollkommnen auf das die Bewohner so stolz sind: „Manikürt“ sei die Insel, heißt es in den Prospekten. Ein „Paradies“ wie sie im offiziellen Wortschatz der patriotischen Bewohner genannt wird.
Übrigens, die Mexikaner und andere ausländischen Gastarbeiter verschwinden am Ende des Arbeitstages von der Insel und kehren zurück in ihre elenden Unterkünfte auf dem Festland. Die Bürger können beruhigt schlafen, denn der Polizeipräsident kann stolz melden, dass es keine Kriminalität auf der Insel gibt.
Und außerdem noch das Wetter: Das ist einfach immer herrlich! Nur in den Sommermonaten nicht so ganz, denn da steigen die Temperaturen auf weit über 30 Grad. Aber dann sind die Zugvögel aus dem Norden längst wieder in ihre kühleren Quartiere zurückgekehrt. Und die Zurückgebliebenen haben Klimaanlage.