Religion in Amerika: Die „Nones“ sind weiterhin im Kommen

In Europa, besonders in Deutschland, treten immer mehr Menschen aus der Kirche aus. Nicht immer, aber doch auch immer öfter, ist es ein Abschied von der Religion schlechthin. Für Amerikaner ist Europa der von Säkularismus geprägte Kontinent, sie dagegen verstanden sich seit dem Beginn ihres Staates als christliche Nation. Die Einwanderer aus nicht-europäischen Ländern brachten später ihre Religionen mit,und Amerika wurde in religiöser Hinsicht pluralistischer. Die Religionen unterschieden sich zwar voneinander, hatten aber eine Gemeinsamkeit: den Glauben an eine transzendente Wahrheit, der Glaube an Religion. So war es weiterhin für Politiker nicht nur leicht, sondern auch  erfolgversprechend, in Reden Amerika als Gottes Land zu bezeichnen. „God bless America“ ist das beliebteste Schlusswort jeder Rede eines Politikers, „In God we trust“ steht auf Münzen und auf jeder Dollarnote.

Eine neue Entwicklung bahnt sich an. Die Frage erhebt sich, ob Amerikaner auch in Zukunft noch auf Gott vertrauen werden. Das Wallstreet Journal befragte in diesem Jahr (2023) eintausend Amerikaner wie wichtig Religion für sie sei. Nur 39 Prozent antworteten, Religion sei sehr wichtig für sie. 1998 waren noch 62 Prozent dieser Meinung. NORC-Umfragen ergaben, dass es von 1988 bis 2012 zwei bis drei Prozent Amerikaner gab, die sich als Atheisten bezeichneten. 2021 waren es sieben Prozent. 1988 nahmen 17 Prozent nie an einem Gottesdienst teil, 2021 waren dies 31 Prozent. Diese statistischen Zahlen zeigen, dass sich die Amerikaner in ihrem Selbstverständnis in eine säkulare Richtung entwickeln. 

Solche Umfragen sind mit Vorsicht zu betrachten, sie umfassen nicht alle Aspekte eines Gesamtbildes. Meinungsforscher haben für alle, die auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit antworten „none“ (keine), die Bezeichnung „Nones“ gewählt. Unter den Nones muss man drei Typen unterscheiden: Atheisten, Agnostiker und jene, die aus diversen Gründen keiner religiösen Institution – also weder Kirche, Synagoge, Moschee oder Tempel – angehören. Der Atheist glaubt nicht an eine göttliche Transzendenz, weil sein Verstand ihm sagt, dass es sie zweifelsfrei nicht gibt. Der Agnostiker kann weder einen Beweis für noch einen Beweis gegen eine göttliche Transzendenz finden. Beide Typen gehören einer Minderheit an, die es schon immer gab. Nicht sie sind es, die die erstaunliche Zunahme von Nones erklären, sondern der dritte Typ tut es. Dieser Typ von Nones besteht aus Menschen, für die Gott oder eine andere transzendentale Instanz durchaus existiert. Da dieser Glaube im Christentum durch die Kirche repräsentiert und in der Kirche praktiziert wird, gehörten diese Nones früher einmal einer Kirche an. 

Die Kirche war nicht nur im tiefsten Sinn Haus Gottes für die Gläubigen – sie war für die Gesellschaft auch eine traditionelle Institution. So musste schon früher die Teilnahme an einer religiösen Veranstaltung für den Menschen nicht unbedingt aus religiösem Bedürfnis erfolgen, sondern es konnten konventionelle Gründe sein, die einen Menschen veranlassten, an einer religiösen Zeremonie teilzunehmen, die aber für ihn persönlich keinerlei religiöse Bedeutung hatte. Nones sind heutzutage Menschen, die von sich selber sagen, sie hätten keine bestimmte Religion. Das schließt nicht aus, dass sie manchmal noch an bestimmten religiösen Ritualen teilnehmen, dass sie in eine Kirche gehen, dass sie an ein „höheres Wesen“ glauben. Ihre Zahl wächst rapide. Anfang der fünfziger Jahre waren es zwei Prozent der Bevölkerung, heute sind es über 20 Prozent. Nones sind die Repräsentanten einer Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet. Religiöse und andere traditionellen Werte sind verloren gegangen und neue nicht erschienen. Die Folge ist eine allgemeine Orientierungslosigkeit – Orientierungslosigkeit nicht nur für das Individuum, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. 

Kann eine Gesellschaft auf Dauer erfolgreich lebensfähig bleiben, wenn ihre Mitglieder nicht zusammengehalten werden von dem Glauben an ein umfassendes Wertsystem. Wenn ein solches fehlt, zerfällt die Gesellschaft in fragmentarische Gruppierungen, deren jede einzelne sich zwar einen Sinn gibt, ihn aber isolationistisch lebt, weil andere Gruppen diesen Sinn nicht teilen, nicht verstehen, ja ihn vielleicht sogar bekämpfen. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat zu diesem Zustand der heutigen amerikanischen Gesellschaft geführt. Die politische Zerstrittenheit, die Spaltung des Landes in Gruppen, die sich kompromisslos gegenüberstehen – Demokraten gegen Konservative, Weiße gegen Farbige, Alt gegen Jung, Heterosexuelle gegen Homosexuelle und Transsexuelle – ist sichtbarer Ausdruck davon, dass ein die Mehrheit der Amerikaner verbindendes Sinnsystem, wie es die Religion einmal war, nicht mehr existiert.

Es ist zu erwarten, dass die Zahl der „Nones“ künftig noch zunehmen wird. Wenn Menschen auf die Frage nach der Religionszugehörigkeit als Antwort schreiben „keine“, bedeutet es, dass sie religiös ungebunden sind, dass sie keiner Kirche oder anderen religiösen Organisation angehören. Es bedeutet aber nicht, dass sie Atheisten sind. Viele sagen, dass sie durchaus noch an Gott glauben, nur suchen sie ihn nicht mehr in einer bestimmten Religion, stattdessen etwa in der Natur, der Begegnung mit anderen Menschen, in der Meditation oder auch in einer von Drogen induzierten emotionalen Stimmung. Manche suchen religiöse Erfahrungen in der Beschäftigung mit nicht-christlichen Religionen, etwa dem Buddhismus. Andere wiederum suchen ihr Heil in esoterischen Zeremonien.

Der Anteil der noch kirchlich praktizierenden Christen ist besonders groß in den amerikanischen Südstaaten. Als „wiedergeborene“ Christen und Evangelikale wählen sie fast ausschließlich die konservative Partei, weil sie sich von der am ehesten die Durchsetzung ihrer moralischen Forderungen – wie z.B. das gesetzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und der Homosexuellen Eheschließung – erhoffen. Kein Wunder, dass die konservative Partei bestrebt ist, den Wünschen dieses gewaltigen Wählerblocks entgegenzukommen. Die konservative Partei ist aber nicht nur Heimat dieser Christen. Sie hat sich auch zum Interessenvertreter für die Anliegen eines anderen Wählerblocks erklärt. Über 81 Millionen Amerikaner sind Waffenbesitzer und kämpfen unter dem Dach der konservativen Partei gegen alle Bemühungen, den Waffenbesitz strenger zu kontrollieren und gesetzlich einzuschränken. Zu den beiden Wählerblocks – Evangelikale und Waffenbesitzer – gesellen sich noch all die selbsternannten nationalistischen Patrioten, die ihr „altes“ Amerika mit seiner „alten Religion“ zurückhaben wollen. In einem beliebten Gospelsong, der zum Hymnenkanon protestantischer Kirchen gehört und von fast allen populären Sängern seit Jahren gesungen wird, heißt es: „Give me back that old time religion, it was good enough for our mothers, it is good enoug for me“. Abgesehen davon, dass in dem Lied weder Gott, noch Jesus, noch die Bibel erwähnt werden, ist für die Nones die „alte“ Religion nicht „gut genug“. Sie haben sie abgelegt. Allerdings ist ihnen nicht gelungen, eine neue zu finden. 

Was ist in den letzten siebzig Jahren mit der amerikanischen Bevölkerung geschehen? Die fünfziger Jahre waren eine Blütezeit für amerikanische Religiosität. Zur Zeit des kalten Kriegs war Patriotismus angesagt – ein Patriotismus, der sich konfliktlos mit Religiosität verbinden ließ: Kampf gegen die Drohung des atheistischen Kommunismus war gleichzeitig christliche und patriotische Pflicht. 1954 wurde dem nationalen Treuegelöbnis (Pledge of Allegiance) die Worte  „under God“ hinzugefügt und zwei Jahre später wurde  durch eine Deklaration des Kongresses der amerikanische Wahlspruch „e pluribus unum“ um die Worte „in God we trust“ erweitert.

Die rechts-gerichtete Gesinnung, in der sich Patriotismus und Religion verbünden, wird im heutigen Amerika von progressiven liberalen Gruppen abgelehnt. Zu ihnen gehören ehemalige Kirchenmitglieder, die nicht einverstanden sind mit der Instrumentalisierung von Religion durch politische Kräfte, die damit Wahlen gewinnen wollen. Nicht bereit, an der Korruption von Religion durch Politik teilzunehmen, haben sie ihre Kirche verlassen und sind Nones geworden.

Viele der Kontroversen, die das heutige Amerika in zwei Lager spalten, nahmen ihren Anfang in den sechziger Jahren und siebziger Jahren. Damals startete die junge Generation eine Revolution, die bis heute nicht beendet ist. Eine Gegenbewegung gegen die traditionelle Kultur entstand, in der junge Menschen alle Institutionen der Vergangenheit auf den Prüfstand stellten und sie skeptisch untersuchten. Sie griffen Themen auf, die vorher für niemanden relevant waren, sie entlarvten Missstände in der Gesellschaft und kämpften für ihre Korrektur. Dieser Kampf wurde in den folgenden Jahrzehnten als „Culture War“ (Kulturkrieg) weitergeführt. Einige wichtige liberal-progressive  Forderungen waren – und sind es bis heute: Gleiche Rechte für Schwarze und L.G.B.T.Q.-Gruppen (Menschen, deren Sexualität von dem abweicht, was bislang als Normalität galt), Emanzipation von Frauen und Ächtung von Kriegs-Politik. Die Abneigung des alten Amerikas sich diesen Problemen zu stellen, sie gar zu lösen – sei es aus moralischen, religiösen oder politischen Gründen – bewegte viele Menschen dazu, sich von der kulturellen Tradition zu distanzieren, die die alten Vorurteile bewahren möchte. Zu dieser Distanzierung gehörte die Absage der Nones an die Religion, die ihrer Meinung nach viele Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft ermöglicht hatte. 

Gefördert wird die Haltung der Nones auch durch die zunehmende Dominanz der Massenmedien im Leben der Menschen. Die Inhalte von Internet, Fernsehen und sozialen Networks sind in der Regel frei von religiösen Themen. Sie produzieren eine säkulare Atmosphäre, der sich Menschen kaum entziehen können. Wenn all die anderen ohne Religion auskommen und anscheinend glücklich sind, warum soll ich nicht auch auf Religion verzichten können, fragt sich das verunsicherte Kirchenmitglied und tritt aus der Kirche aus.

Zwei weitere Phänomene gibt es, die zur Erklärung beitragen, warum die Zahl der Nones zunimmt. Wachsender Wohlstand soziale Sicherheit stellen anscheinend einen Gemütszustand her, in dem der Mensch es nicht nötig findet, sich mit Hilfe von Religion eine andere Art der Sicherheit und des Beistands bei Schicksalsschlägen zu verschaffen. Vielleicht denkt er auch gar nicht an diese Möglichkeit, weil er meint, er brauche das nicht.

Das zweite Phänomen hängt mit dem Bildungsgrad eines Menschen zusammen. Statistiken zeigen, dass der College-Absolvent in größerem Maß auf Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion verzichtet als es der Arbeiter am Fließband tut. Das muss nicht an seiner vielleicht größeren Intelligenz liegen. Es hat eher mit dem vorhergehenden Phänomen zu tun: Sein höherer Bildungsgrad stellt ihm höheren Wohlstand und damit größere Sicherheit in Aussicht. Er braucht keine Kirche oder Synagoge, keinen Tempel, um mit Gott oder irgendeiner anderen Transzendenz zu kommunizieren. Als Religionsersatz dienen ihm andere Möglichkeiten, etwa das intensive Erleben von Natur oder Meditation und Achtsamkeit.

Ein ganz besonderer Grund für die große Zahl der Nones ist die politische Situation der USA, die dominiert wird von Donald Trump, dem vorletzten Präsidenten. Es vergeht kein Tag, an dem nicht von Trump in den Zeitungen und dem Fernsehen berichtet wird. Das liegt einmal an ihm selbst. Er lässt keine Möglichkeit aus, Aufsehen zu erregen. Jede Kontoverse, jede Provokation ist ihm dazu recht. Ein anderer Grund ist die Einleitung verschiedener Gerichtsverfahren gegen ihn. Diffamierungen von Personen, Steuerhinterziehung, Zahlung von Schweigegeld an eine Pornodarstellerin werden ihm zu Last gelegt. Die größte Anklage aber ist die, dass er seine Anhänger aufgehetzt habe, am 6. Januar 2021 das Capitol zu stürmen, um zu verhindern, dass Biden zum Präsidenten ernannt werde. Seine von ihm fanatisierten Anhänger verschafften sich gewaltsam Zutritt zum Capitol und bedrohten die anwesenden Politiker. Sie hatten sich von Trump überzeugen lassen, dass er der wirkliche Wahlgewinner wäre und dass Biden mit seiner demokratischen Partei die Wahl durch Betrug gestohlen habe. Noch heute, nach über einem Jahr, glaubt nach Umfragen die Hälfte der republikanischen Parteimitglieder, dass Trump und nicht Biden der rechtmäßige Präsident sei.  Trump kandidiert wieder für die nächste Präsidentschaftswahl und macht die ihm „gestohlene“ letzte Wahl zum zentralen Thema seiner Wahlkampagne und reißt damit seine Anhänger auf Rallies und Townhall-Meetings zu frenetischem Jubel hin. Noch mögen 56 Prozent der Amerikaner Trump nicht als Präsident sehen. Sollte Trump von seiner konservativen Partei dennoch zum Kandidaten gewählt werden, wäre dies ein Schock für viele Amerikaner: Die Partei, die mit ihren Millionen von Christen für sich in Anspruch nimmt, die traditionellen moralischen Werte Amerikas zu repräsentieren, würde sich für einen Kandidaten entscheiden, der die Verkörperung der Unmoral, der Lüge und Korruption ist. Eine Welle von Kirchenaustritten wäre zu erwarten und die Zahl der Nones würde weiter steigen.

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