Trump, der von Gott Erwählte

    Ein Wendepunkt in der Geschichte der USA ist erreicht: Donald Trump wird der 47. Präsident der Vereinigten Staaten. Den Wahlkampf hat er gewonnen mit dem Versprechen, Klimaverordnungen aufzuheben, Erdöl und Erdgasbohrungen auszuweiten, Ausländer, die illegal im Land sind, in Massen zu deportieren, die militärische Unterstützung der Ukraine zu reduzieren, Zölle für importierte Waren einzuführen bzw. zu erhöhen und Steuern umfangreich zu erniedrigen. Dies sind weitreichende politische Neuerungen, die geeignet sind, die internationale Weltlage zu verändern. –

    Das sind die Pläne eines Mannes, der mehrere Male vor Gericht stand. Verurteilt wurde er für Fälschung von Geschäftsunterlagen, illegale Wahlkampffinanzierung im Zusammenhang mit Schweigegeldzahlungen an eine Pornodarstellerin, Finanzbetrug und künstlicher Aufblähung des Vermögenswertes, wofür er eine Strafe von über 450 Millionen Dollar zahlen musste. In Zivilprozessen wurde er wegen sexueller Übergriffe auf eine Schriftstellerin und anschließende Verleumdung zu einer Geldstrafe in Millionenhöhe verurteilt. Weitere Gerichtsverfahren wurden wegen des Wahlkampfes unterbrochen.

    Wie konnten die Amerikaner einen solchen Mann zum Präsidenten wählen? Erklärungen gibt es zuhauf. Nächstliegende Begründung ist, dass die alte Wahlkampfdevise des Clinton Beraters James Carville sich wieder einmal bewährt hat: „It’s the economy, stupid“. Trump konnte den Bürgern einreden, dass er besser als seine Gegnerin Kamala Harris geeignet sei, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Hohe Inflation, hohe Benzinpreise und gestiegenen Kosten für Lebensmittel und Wohnungen waren Grund für viele Amerikaner den zu wählen, von dem sie sich Rettung versprechen. Den Charakter des erhofften Retters, seinen Hang zu Größenwahn, Angeberei und Lügerei sahen zwar viele, wollten aber dem eigenen Geldbeutel zuliebe darüber hinwegsehen.

    Aber kann dies allein erklären, warum eine Mehrheit der Amerikaner einen Kandidaten zum Präsidenten wählt, der eine so hohe Zahl von Missetaten begangen, der seine drei Ehefrauen betrogen hat, der ein krimineller Straftäter ist und der unzählige Male vor Gericht stand?

    Es stellt sich die Frage, ob seine Wähler in ihm vielleicht die Verkörperung von etwas sehen, was sie selbst sind oder sein wollen. Zeit seines Lebens erregt er die Öffentlichkeit mit Berichten über Geldgier, Reichtum, Sexskandale und Fernsehprominenz. Es sind überwiegend Phänomene eines Teils der amerikanischen Kultur, von der für die Masse der Amerikaner eine große Faszination ausgeht. Diese Faszination hat in Trump ihre Personifikation gefunden. Mit dem Charisma, das er unzweifelhaft hat und mit seinen Showman-Allüren versetzt er die Menschen bei Kundgebungen in Ekstase. Auch wenn er als Millionär nicht einer von ihnen ist, weckt er in den Menschen die Illusion, einer von ihnen zu sein und für sie zu kämpfen. Als die Kugel eines Attentäters sein Ohr streift und er von Sicherheitskräften weggeführt wird, gelingt es ihm noch im Tumult mit blutverschmiertem Gesicht die Fäuste zu recken und die Menge zum „Kämpfen“ aufzufordern. Kämpfen sollen sie, wie er selbst, für die Wiederherstellung des einstigen Amerika mit seinen traditionellen Werten. Da es noch eine demokratische Wahl gab, mussten sie nicht kämpfen. Es genügte, dass über 76 Millionen Amerikaner (58%) Trump zum Präsidenten gewählt haben.

    Was ist ein Amerikaner, was macht seine Identität aus? Ist Trump als Präsident wirklich der Repräsentant des Amerikaners? Seine Gegner, wenn auch eine Minderheit, aber dennoch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, bestreiten es vehement.

    Der Überlieferung nach wurde Benjamin Franklin nach dem Verfassungskonvent von 1787 gefragt: „Nun, Doktor, was haben wir bekommen  –  eine Republik oder eine Monarchie?“ Franklin antwortete: „Eine Republik, wenn ihr sie behalten könnt.“ Als hätte der weise Franklin schon damals geahnt, dass einer kommen könnte, der zerstören würde, was Amerika als ein Vorbild für die Welt entwickelt hat: ein demokratisches System mit Regeln, basierend auf Verfassung, Volkssouveränität und freien Wahlen. Diese Gefahr droht heute, nachdem das politische Gleichgewicht sich extrem verschoben hat, Regierung, Parlament und oberster Gerichtshof von Republikanern dominiert werden und Trump als Präsident die Macht hat, traditionelle demokratische Regeln außer Kraft zu setzen.

    Schwerer als Trumps charakterliche Mängel wiegen seine respektlosen Äußerungen über demokratische Institutionen und die amerikanische Verfassung. Trump hatte seine Wahlniederlage von 2020 nie akzeptiert. Sie sei das Ergebnis von Wahlbetrug und es sei nötig, Teile der Verfassung außer Kraft zu setzen, den Betrug zu beweisen. In der Untersuchung der illegalen Zurückhaltung von Dokumenten des Weißen Hauses lässt er seinen Anwalt verkünden, als Präsident stehe er über dem Gesetz und könne über die Akten nach Gutdünken verfügen. Demokratische Normen zu brechen scheint Trump auch für seine zweite Amtszeit zu planen. Diktator wäre er gern, allerdings nur für einen Tag. Alle ihm nicht wohl gesonnenen Beamten im Regierungs- und Justizsystem würden gefeuert. Das Ergebnis der bevorstehenden Wahl werde er nur dann anerkennen, wenn er gewinne. Im anderen Fall würde er Gewalt nicht ausschließen. Die friedliche Amtsübergabe nach einer Wahl ist eine Tradition, die von beiden Parteien bisher immer eingehalten wurde. Sie abzulehnen, wie Trump es tat, bedeutet einen radikalen Bruch mit dem demokratischen System, für das die USA seit ihrem Bestehen repräsentativ ist.

    1935 veröffentlichte Sinclair Lewis seinen Roman „It Can’t Happen Here“. In ihm wird imaginativ vorweg genommen, was gemeinhin als unglaublich erachtet wird und sich dennoch ereignen kann. Der Protagonist, der Demagoge Buzz Windrip, schlägt mit seinem Charisma das Land in seinen Bann und führt totalitäre Regeln ein. Er gibt sich als Verfechter der Interessen des „vergessenen Mannes“ und der traditionellen amerikanischen Werte. Er ist zunächst erfolgreich, scheitert jedoch am Ende. Allerdings kehrt das Land nicht sofort zu seinen demokratischen Regeln zurück. Die Ähnlichkeit zwischen dem Möchtegern Autokraten Trump and Windrip ist für den Leser des Romans nicht zu übersehen.

    „Eine zweite Präsidentschaft Trumps ist eine offene Einladung zum Chaos“, schreibt der Historiker Jon Meacham. In der Vergangenheit „haben Amerikaner gekämpft, geblutet und sind gestorben, so dass wir, das Volk, uns bemühen konnten, unsere Union zu perfektionieren – und nicht, dass ein autoritärer Showman-Tyrann unser nationales Projekt zu seinem persönlichen Eigentum macht.“ (I`m a Presidential Historian. This Is My Biggest Regret About Trump, NYT Nov. 5, 2024).

    Waren es überzeugendere politische Inhalte, waren es erfolgreiche Wahlkampf-Strategien, die eine Mehrheit von Amerikanern dazu bewegt hat, einen Mann wie Trump zu wählen, obwohl sein unmoralisches Verhalten und das Fehlen jeglicher charakterlichen Integrität längstens bekannt waren? Kaum anzunehmen. Die Gründe müssen irgendwo anders liegen. Sie müssen gesucht werden im Wesen des nationalen Charakters der Vereinigten Staaten, in der amerikanischen Identität.

    Auf einer Wahlkampfveranstaltung 2016 sagte Trump: „Ich kann in der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren.“ Diese Provokation einer absoluten Unverwundbarkeit konnte er sich leisten, denn er kannte sein Publikum und war sich der bedingungslosen Loyalität seiner Wähler, die ihn schon seit längerem kannten, sicher.

    Trump entwickelte das ererbte Unternehmen seiner Familie zu einer der bekanntesten Organisationen auf dem Immobiliensektor und machte sich, trotz – oder wegen – einiger Bankrotte, weltweit einen Namen mit dem Bau von Hochhäusern, Hotels und Casinos. In der Popkultur wurde er bekannt, weil er gelegentlich in Gastauftritten im Fernsehen erschien. Große Prominenz erlangte er in seiner Rolle als Moderator in der Reality-TV-Serie „The Apprentice“, die von 2004 bis 2015 ausgestrahlt wurde. In der Show konkurrierten Kandidaten um einen Job in seiner Organisation, wobei Trump die Verlierer mit einem Satz entließ, der auch später zu seinem Markenzeichen als selbstüberheblicher Boss wurde: „You are fired!“ So prominent war er, dass er sich, laut eigener Aussage, bei Frauen alle Freiheiten erlauben könne.

    Im Juni 2015 gab Trump im Lobby des Trump Towers in New York seine Kandidatur für die Präsidentschaft bekannt. In seiner Eröffnungsrede versprach er, Amerika wieder so großartig zu machen, wie es einmal war, und gebrauchte den Slogan,der später auf den Mützen seiner Anhänger stand (MAGA) und der ganzen Trump-Bewegung ihren Namen gab: „Make America Great Again.“

    Eine breite Masse Amerikaner sieht Trump als prominenten Fernsehstar und erfolgreichen Geschäftsmann. Er ist die Verkörperung eines Mythos, die Verkörperung des amerikanischen Traums vom Glück, der in Wirklichkeit ein Traum vom wirtschaftlichen Erfolg ist. Es ist nicht ein Traum schlechthin, es ist ein spezifisch amerikanischer Traum, den eine Nation träumt, die aus Einwanderern besteht. Durch harte Arbeit, ausdauernden Fleiß und Intelligenz soll es jedem Amerikaner gelingen, ihn zu verwirklichen. Das versichern Eltern ihren Kindern, Lehrer ihren Schülern und geistliche Prediger ihren Gläubigern. Er ist wesentlicher Teil der amerikanischen Identität. Dass Trump diesen Traum verwirklicht hat, bewundern seine Anhänger. Dass er ihn mit dubiosen und korrupten Mitteln verwirklicht hat, ignorieren sie, wie sie auch seine äußere Aufmachung, die gefärbten Haare und das orangefarben geschminkte Gesicht ignorieren.-

    „Make America Great Again“, Trumps Wahlkampfslogan impliziert, dass Amerika irgendwann einmal groß gewesen sein muss. Er lässt offen, wann das gewesen sein soll. Die Vagheit der Aussage lässt den Zuhörern die Freiheit, diese paradiesische Zeit selbst zu bestimmen. Wenn sie ökonomisch träumen, könnten es die beiden Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg gewesen sein, als die USA ökonomisch und militärisch an der Spitze der Welt standen. Es könnte auch eine Zeit gewesen sein, in der: 

  • Einwanderer vorwiegend aus europäischen Ländern nach Amerika kamen und weiß waren
  • die Gesellschaft noch von weißen Männern dominiert wurde
  • Frauen noch kein Wahlrecht hatten und lediglich Ehefrauen und Mütter sein sollten, die sich um die Familie kümmern –
  • die Kirche mit ihren Moralvorstellungen die Gesellschaft dominierte 
  • Schwarze als Sklaven Eigentum ihrer Herren waren und keinerlei Rechte hatten.

  Alle diese Zustände sind heute politisch überwunden. Als Restbestände von überkommenen Auffassungen existieren sie jedoch noch immer unterschwellig im kollektiven Unterbewusstsein der amerikanischen Psyche. Sognannte traditionelle Wertvorstellungen, die laut Trump verloren gegangen seien, existieren in veränderter Form auch heute noch. Sie werden aus dem sanktionierten amerikanischen Narrativ verdrängt. In der Öffentlichkeit werden sie tabuisiert.

    Die Existenz eines ehemaligen paradiesischen Amerikas wird von Nostalgikern nicht als Illusion erkannt. Trumps Slogan, dieses Amerika wieder herzustellen ist das Versprechen einer rosigen Zukunft. Es wird von den meisten seiner Wähler nicht hinterfragt, sondern wie die Verkündigung eines Sektenführers bejubelt. Dass Trump auf seinen Wahlveranstaltungen seine Kampagne als historische „MAGA“-Bewegung bezeichnet und seine fanatischen Anhänger ihre Mitgliedschaft in dieser Bewegung durch das Tragen von MAGA-Mützen bekunden, verstärkt den Eindruck der Ähnlichkeit zwischen der MAGA-Bewegung und einer Sekte.

    Es gab schon mehrmals xenophobische Bewegungen in der amerikanischen Geschichte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts richteten sich der Nativismus gegen irische und katholische Einwanderer, später gegen Einwanderung chinesischer Arbeitskräfte. Anfang des 20. Jahrhunderts führte der Erste Weltkrieg zu einer Diskriminierung deutscher Einwanderer. Trumps MAGA-Bewegung leitet erneut eine fremdenfeindliche Stimmung mit rigorosen Folgen ein. Nach seiner Einsetzung als Präsident plant er eine Massendeportation von Millionen von Immigranten, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben und für hohe Kriminalität verantwortlich seien. Dieser Plan bringt ihm die Stimmen all derer ein, die meinen, dass Ausländer den Einheimischen die Arbeitsplätze wegnähmen, Kosten für das Land verursachten und – vor allem – Amerika unamerikanischer machten, indem sie seine Seele vernichteten. Dies ist eine weit verbreitete Überzeugung, besonders der weißen Mittelschicht, die weniger auf rationalen Gründen beruht, sondern aus einem Nationalismus entsteht, der Angst hat vor einem Verlust der kulturellen Identität.

    Nationalismus, der sich mit Religion und kirchlichem Leben verbündet, findet sich vorwiegend im Süden der USA und in ländlichen Gegenden. Vor allem evangelikale Christen, die ihr Leben streng nach biblischen Grundsätzen ausrichten, üben einen großen politischen und gesellschaftliche Einfluss aus. Sie vertreten konservative Werte und sind daher eine wichtige Wählerbasis für die Republikanische Partei. Sexualität, Familie, Abtreibungsgesetze, LGBTQ+-Minoritäten sind Themen, wo sich kirchlicher und Republikanischer Konservatismus nicht nur begegnen, sondern verschmelzen. So findet Trump als Sektenanführer der MAGA-Bewegung großen Rückhalt bei den Kirchen Amerikas. Sein unmoralischer Lebenswandel wird von ihnen durchaus gesehen. Sie kündigen ihm aber deswegen keineswegs die Loyalität. Geschickt wie ihre Kirchenoberen sind, finden diese Stellen in der Bibel, wo selbst Gott sich unmoralischer Menschen bedient, um einen moralisch guten Zweck zu erfüllen. So gelingt es ihnen, den unmoralischen Präsidenten Trump zum Werkzeug Gottes zu deklarieren. Dem Einfluss Trumps verdanken sie, dass ein Gesetz von 1973, das die Abtreibung in allen Staaten legalisierte, für ungültig erklärt wurde.

    Viele evangelikale Christen sind überzeugt – und Trump schließt sich ihrer Meinung an: Gott gab das Zeichen, dass Trump von ihm auserwählt wurde, Amerika wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Die Kugel eines Attentäters verfehlte bei einer Wahlveranstaltung Trumps Kopf um Zentimeter und ritzte nur sein Ohr.

    Sollte ein solcher Mann nicht das Recht und die Macht haben, die Verfassung ein bisschen zu verändern und ein paar demokratische Gewohnheiten zu ignorieren? Trump ist überzeugt davon.

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