Der Amerikanische Traum

„Joe, mein Junge, merke dir eins: In diesem unseren Amerika kannst du alles werden und alles erreichen, was du willst. Du musst nur deine ganze Anstrengung und Willenskraft einsetzen, um dein Ziel zu erreichen.“

So sprach der Vater, der bei der Müllabfuhr war, zu seinem Sohn. Der war ein Teenager, also im kritischen Alter, und wollte den Vater schon fragen, ob der sich zum Lebensziel gesetzt hatte, ein Müllmann zu werden, ob das wirklich sein amerikanischer Traum gewesen sei. Er fragte dann aber doch nicht, weil ihm einfiel, dass sein Vater wenig Sinn für Ironie hatte.

Joe war kein schlechter Schüler, seine Lehrer meinten, er sei „College-Material“, und also entschlossen sich seine Eltern, ihr knappes Geld in eine College-Karriere ihres Sohnes zu investieren. Der aber entschied nach Ende des ersten Jahres, dass College nichts für ihn sei. Er wolle lieber mit seinen Händen arbeiten. Er fand auch schnell Arbeit in einer Werkstatt, die sich auf die Reparatur von Kleingeräten wie Fahrräder und Rasenmäher spezialisiert hatte. Eine Zeit lang ging alles gut, Joe war zufrieden.

Das änderte sich, als eines Tages ein Onkel zu Besuch kam. Der Onkel trug einen Anzug mit Krawatte und hatte gepflegte Fingernägel. Er war Immobilienmakler. Seinem inzwischen zum Mann herangewachsenen Neffen machte er den Vorschlag, er könne zu ihm ins Büro eintreten und sich in den Immobilienhandel einarbeiten. Das tat Joe dann auch. Er vermittelte den Kauf und Verkauf von Häusern ziemlich erfolgreich und verdiente dabei genug, um sich selbst auch ein Haus kaufen zu können. Es war allerdings keine tolle Villa, sondern nur ein älteres, etwa heruntergekommene Gebäude. Da er handwerkliches Geschick hatte, konnte er selbst die meisten Mängel reparieren, so dass das Haus schließlich recht wohnlich war.

Als stolzer Hausbesitzer fand er bald eine Frau, heiratete sie und wurde nach ein paar Jahren Vater einer Tochter und eines Sohnes. Ob er das Ziel seines Lebens erreicht hatte, wusste er nicht. Immer wieder las er in allen Zeitungen, wie wichtig körperliche Bewegung sei. So beschloss er, morgens vor der Büroarbeit vier Kilometer zu laufen. Das tat er dann auch – anfangs. Später reduzierte er die Strecke auf zwei Kilometer, und als ihm das noch zu viel war,  fuhr er mit dem Auto ins Fitnessstudio.

Gewichte heben! Das empfahl ihm dort der persönliche Trainer. Gerade für ältere Menschen, zu denen Joe inzwischen gehörte, sei es extrem wichtig, „Muskelmasse aufzubauen.“ Joe erinnerte sich an den Spruch seines Vaters: Ein Amerikaner kann, wenn er nur wirklich will und sich anstrengt, jedes Ziel in seinem Leben erreichen. Joe begann damit, leichtere Gewichte zu heben, später ging er dann zu schwereren über, bis es ihm schließlich gelang, richtige kleine Muskelpakete an Armen und Beinen zu erzeugen.

Dieses Ziel hatte er erreicht.  Leider kostete es einen Preis. Sein rechtes Knie begann eines Tages zu schmerzen. Der Arzt sagte, es sei kaputt, Folge von Überanstrengung. Joe musste ab jetzt oft einen Rollstuhl benutzen, wenn die Schmerzen zu groß wurden.

Joes Frau hatte sich schon vor Jahren von ihm scheiden lassen und war verschwunden. Der Sohn war in eine andere Gegend verzogen. Die Tochter konnte sich nicht persönlich um ihren Vater kümmern. Aber sie hatte glücklicherweise einen reichen Mann geheiratet und konnte es sich leisten, Joe in einem Altersheim, einer Senioren-Resident der gehobenen Qualität unterzubringen.

Auch hier gab es keine Ruhe:  der Kampf gegen Alter und Verfall ging weiter. Neues Ziel: Den Tod aufschieben so lange wie möglich! Der Therapeut war hartnäckig: Auch im Rollstuhl könne man noch einiges tun, drohte er. Doch Joe winkte lustlos ab. Aufgeschoben ist doch nicht aufgehoben, dachte er. Dennoch hatte er, auf Vorschlag seiner Kinder, schon mal schriftlich einen Plan für seine Beerdigung gemacht und hatte ihn in die Schublade gelegt.

Meist saß Joe im Rollstuhl am Fenster seines Zimmers, schaute in die Ferne und grübelte, was wohl sein Vater heute sagen würde. Hatte er sich die richtigen Ziele in seinem Leben gesetzt hatte er sie erreicht? Oder hatte er sein Leben sinnlos vergeudet? Kürzlich erhielt er die Nachricht vom Tod eines alten Freundes. Sie erfüllte ihn mit Trauer. Dann las er die Nachricht zu Ende und sah die Einladung. Nicht die Einladung zu einer Trauerfeier. Es war eine Einladung zur Feier des Lebens des Verstorbenen. Dessen Leben muss wohl einen Sinn gehabt haben, sonst würde man es doch nicht so feiern. Lebensfeier nannte man es und vermied damit das Wort Tod, um nicht den Teilnehmern die Stimmung zu verderben. Joe kam ein Gedanke: Bald würde er seinen Kindern auch zu feiern Gelegenheit geben. Vielleicht würde es ihnen dabei sogar gelingen, einen Sinn in seinem Leben zu finden. Schade, dass er nicht mehr erfahren würde, welchen.